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Die Vorsicht der Patriarchen

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Seit mehr als 50 Jahren bestimmt Kaiser Haile Selassie I. den Kurs der äthiopischen Außenpolitik. Heute, mit 76, übt der Negus zwar keine direkte Kontrolle über sein Außenministerium mehr aus, aber seine Entscheidungen sind noch immer der wichtigste Faktor für die Beziehungen des Landes zur übrigen Welt. Dem persönlichen Prestige des Herrschers verdankt Äthiopien seine bedeutende Position im politischen Geschehen Afrikas — ein ungewöhnlicher Bang für ein in vielen Wesenszügen noch mittelalterliches Reich. Als Sitz der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) und der Wirtschaftskommission für Afrika wurde die Hauptstadt Addis Abeba zum diplomatischen Zentrum des Kontinents — das Resultat der vorausschauenden politischen Klugheit des Kaisers, innerhalb seiner Grenzen eine internationale Plattform zu bieten, und seiner Bereitschaft zum finanziellen Engagement für die gemeinsame Sache.

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Seit mehr als 50 Jahren bestimmt Kaiser Haile Selassie I. den Kurs der äthiopischen Außenpolitik. Heute, mit 76, übt der Negus zwar keine direkte Kontrolle über sein Außenministerium mehr aus, aber seine Entscheidungen sind noch immer der wichtigste Faktor für die Beziehungen des Landes zur übrigen Welt. Dem persönlichen Prestige des Herrschers verdankt Äthiopien seine bedeutende Position im politischen Geschehen Afrikas — ein ungewöhnlicher Bang für ein in vielen Wesenszügen noch mittelalterliches Reich. Als Sitz der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) und der Wirtschaftskommission für Afrika wurde die Hauptstadt Addis Abeba zum diplomatischen Zentrum des Kontinents — das Resultat der vorausschauenden politischen Klugheit des Kaisers, innerhalb seiner Grenzen eine internationale Plattform zu bieten, und seiner Bereitschaft zum finanziellen Engagement für die gemeinsame Sache.

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Bei der Gründung der OAU im Jahr 1963 spielte Halle Selassie eine wichtige Rolle. Seither erwarb er sich den Ruf des besten Vermittlers bei iinnenafrikanischen Streitfragen, eine Funktion, die dem Doyen der Staatsmänner des Schwarzen Kontinents verdientermaßen zukommt. Als Vorsitzender des OAU-Konsul-tativkomitees für Nigeria suchte der Kaiser unverdrossen nach Möglichkeiten zur Beendigung des Bürgerkriegs. Er genießt große Achtung, und beide Lager hören auf seine Ratschläge, sein moralisches Gewicht als Friedensstifter und seine unparteiische Haltung werden ohne Einschränkung anerkannt. Die Ziele, für die Halle Selassie mit einer in unseren Tagen selten gewordenen Beharrlichkeit in patriarchalischer Ruhe eintritt: sein Glaube an die kollektive Sicherheit, die territoriale Integrität Äthiopiens, die Befreiung der von Weißen beherrschten Gebiete im Süden Afrikas, das Streben nach afrikanischer Zusammenarbeit im Sinne eines Panafrikanismus und seine Entschlossenheit, mit allen Staaten freundschaftliche Beziehungen zu pflegen.

AU dies im Kontext einer Blockfreiheit äthiopischer Prägung. Eine Politik, die sich aus den eigenen wechselvollen Erfahrungen und Überzeugungen des Kaisers und der geographischen Lage des christlichen Äthiopien herleitet, das zum Teil von islamischen Staaten, potentiellen Feinden, umgeben ist. Im Vordergrund stehen die dringenden wirtschaftlichen Erfordernisse eines Entwicklungslandes. Trotz intensiver Forschungen ist es bis jetzt nicht gelungen, in Äthiopien reiche natürliche Rohstoffquellen zu entdecken. Zum Unterschied von den Ländern, die dem britischen Commonwealth oder der Union Fran-caise angehören, hat Äthiopien keine früheren Kolonialherren, die schon aus moralischer Verpflichtung mit finanzieller oder technischer Hilfe einspringen.

Vor einigen Wochen umriß der neue Botschafter in Washington, Minassie Haile, bei der Überreichung seines Beglaubigungsschreibens die Situation Äthiopiens mit den Worten: „Unsere Hauptsorge gilt zur Zeit den Problemen der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung. Wir sind auf Unterstützung durch befreundete Industriestaaten angewiesen.“ Darauf Präsident Johnson: „Wir werden Ihre Bestrebungen in dieser Richtung weiterhin fördern.“ Informierte Kreise schätzen, daß die amerikanischen Zuschüsse etwa 40 bis 50 Prozent des äthiopischen Gesamtbudgets betragen. In dieser Ziffer sind außer direkten Krediten auch jene Summen enthalten, welche die USA Organisationen wie der Weltbank zur Verfügung stellen, die ihrerseits Äthiopien Anleihen für bestimmte Entwicklungsprojekte gewähren. Aus den USA kommen die Warfen und die Flugzeuge, welche die äthiopischen Streitkräfte zu einem der stärksten Militärpotentiale Afrikas machen. Ebenso wurde eine große Zahl von Beratern und Fachkräften verschiedener Sparten in das Land am Roten Meer entsandt. Hunderte von äthiopischen Studenten erhalten Stipendien für die Ausbildung an amerikanischen Hochschulen. Überdies nimmt der amerikanische Markt drei Viertel der äthiopischen Kaffeeproduktion auf, und Kaffee ist bei weitem der wichtigste Exportartikel, wertmäßig repräsentiert er etwa die Hälfte des Gesamtexports von Haile Selassies Reich.

Und welche Gegenleistung dürfen die USA dafür erwarten? Gewiß nicht die sklavische Gefolgschaft Äthiopiens bei der UNO. Äthiopien tendiert zu einer gemäßigten, neutralistischen Linie, der Kaiser selbst bezeichnete die blockfreie Position seines Staates mit den Worten „unparteiisch bei der objektiven Beurteilung politischer Schritte und Aktionen“. Realistisch gesehen ist diese Blockfreiheit allerdings sehr fragwürdig, denn die USA unterhalten von Addis Abeba, auf der etwa die Hälfte des äthiopischen Warenverkehrs abgewickelt wird. Für Äthiopien ist es von lebenswichtigem Interesse, diesen Handelsweg intakt zu halten. 1967 entschied sich die Kolonie für die weitere Verbindung mit Frankreich. Im Fall einer Unabhängigkeitserklärung würden es die Äthiopier gewiß nicht zulassen, daß Dschibuti in die Einflußsphäre Somalias geriete. Addis Abeba würde eine solche Gewichtsverlagerung wahrscheinlich sogar mit Waffengewalt zu verhindern suchen. Das einzige Nachbarland, mit dem Haile Selassie seit je ungetrübt gute Beziehungen unterhält, ist Kenya. Die beiden Staaten haben einen Verteidigungspakt abgeschlossen und allmonatlich treffen die Minister zu Beratungen zusammen. Es ist eine Allianz, die auf verwandten außenpolitischen Bestrebungen beruht. Zudem sind der Kaiser und der Premier Iomo Kenyatta Altersgenossen, Männer hoch in den Siebzigern, mit großer Erfahrung, Patriarchen, die jede Entscheidung reiflich überlegen. Der Beitritt Äthiopiens zum Ostafrikanischen Gemeinsamen Markt wäre eine Geste des guten Willens und ein Schritt in Richtung auf die politische Einigung der Region. Die praktischen Auswirkungen wären allerdings weniger günstig. Auf dem Kaffeeweltmarkt sind Äthiopien und Kenya Konkurrenten, es gibt nur geringen Güterverkehr und spärliche direkte Kontakte zwischen den beiden Ländern, die gemeinsame Grenze ist sehr weit von Nairobi und von Addis Abeba entfernt und die Straßen sind unter aller Kritik. Mit den arabischen Staaten im Norden und Westen lebt Äthiopien in friedlicher Koexistenz, das heißt diplomatische Höflichkeit überbrückt untergründige Spannungen. Die äthiopische Geschichte ist in ihren wichtigsten Phasen ein einziger langer Abwehrkampf gegen die Einkreisung durch die Moslems. Daher der psychologische Auftrieb zu einer Annäherung an Israel. Beide Länder pflegen regen Güteraustausch, die Israelis bildeten äthiopische Fallschirm- und Sondereinheiten aus, beteiligen sich an verschiedenen Industrieprojekten, entsenden technische Berater und Lehrkräfte. Zwar wurde kein Militärbündnis abgeschlossen, doch der israelische Geheimdienst gibt wertvolle Informationen über arabische Pläne nach Addis Abeba weiter. Israel selbst hat dabei die innere Genugtuung, daß zumindest ein Land am Roten Meer seine Souveränität ohne Einschränkungen anerkennt. So stellt sich also die Lage Äthiopiens dar. Eine Politik klug abwägender Neutralität, mit festen Bindungen an die USA, die Bereitschaft Hilfe anzunehmen, wo sie geboten wird, ob aus Ost oder West, ein Goodwill-Verhältnis nach allen Seiten, aber unter vorsichtiger Sondierung des Terrains. Und das Bestreben, stark genug zu sein, um äußeren und inneren Gefahren entschlossen begegnen zu können. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß jede Führungsspitze, welche in diesem Staat auf legalem Weg an die Macht gelangt, den von Haile Selassie eingeschlagenen Kurs weiterverfolgen wird.(Aus dem Englischen übersetzt von Gunther Martin.)in Asmara, einer Stadt im Norden des Landes, einen militärischen Stützpunkt von großer strategischer Bedeutung, die sogenannte Kagnew Station.

Diese ist, wie man mit ziemlicher Sicherheit annehmen darf, keine Basis für Kernwaffen, sondern ein Telekommunikationszentrum. Die genauen Funktionen sind natürlich Top Secret, doch aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich dabei um Anlagen zur Ortung von Weltraumsatelliten und Relais für Funkverbindungen mit Osteuropa. Die sowjetischen Flottenbewegungen im Roten Meer können am besten von der Kagnew Station aus überwacht werden. Man müßte sich sehr täuschen, wenn die Amerikaner diesen Stützpunkt nicht ausbauten. Sie können mit dem Tauschgeschäft jedenfalls recht zufrieden sein. Ihre Position in Äthiopien bedeutet militärische Präsenz auf dem afrikanischen Festland und die Möglichkeit, durch Hilfsprogramme, Informationsdienste und das Friedenskorps, das ein starkes Kontingent in Äthiopien stehen hat, den direkten Kontakt mit der Bevölkerung zu pflegen. Auf diplomatischer Ebene zeigt sich das Verhältnis zwischen Äthiopien und den kommunistischen Staaten, oberflächlich betrachtet, als sehr harmonisch. Die Sowjets errichteten in Assab eine Ölraffinerie, in Bahar Dahr eine technische Lehranstalt, in Addis Abeba betreiben sie ein Spital und bieten Äthiopien über 100 Stipendien an Universitäten in der UdSSR. Auch andere Ostblockländer beteiligen sich an verschiedenen Projekten. So scheint Haile Selassies Politik der freundschaftlichen Beziehungen nach allen Seiten ihre praktische Rechtfertigung zu finden. Aber es würde sicherlich sehr gut ins Konzept fremder Mächte passen, wenn die gegenwärtige Regierung geschwächt, schließlich gestürzt und durch ein Regime mit scharfem Linksdrall abgelöst würde. Deshalb versorgen die Sowjets die Republik Somalia, die das Recht der Selbstbestimmung für weite, von Somalis besiedelte Gebiete Äthiopiens verficht, mit Kriegsmaterial. Das Somaliproblem bildet nach wie vor die schwerste, permanente äußere Bedrohung des Kaiserreichs. Ebenso wie in Kenya und dem Territorium der Afars und Issas (früher Französisch-Somaliland) werden auch große Regionen Äthiopiens von nomadisierenden Somalis bewohnt. Die Forderung nach Vereinigung aller Somalis ist in der Verfassung Somalias eindeutig verankert. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Republik im Jahr 1960 kam es immer wieder zu Reibungen mit Äthiopien und Kenya, die sich 1964 bis zu Grenzkonflikten zuspitzten. Vom Juli 1967 an wurde eine Entspannung der Situation fühlbar. Der neue Ministerpräsident von Somalia, Mohammed Hadschi Ibrahim Egal verfolgte eine Politik der nachbarlichen Verständigung. Doch in Addis Abeba reagierte man auf diese Verbesserung der Beziehungen begreiflicherweise sehr vorsichtig, da man nicht weiß, wie lange das Schönwetter anhalten wird.

Eine weitere außenpolitische Sorge Äthiopiens gilt der Zukunft der französischen Kolonie der Afars und Issas. Deren Hauptstadt Dschibuti ist der Endpunkt einer Bahnlinie

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