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Neue Musik aus Polen

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Im Großen Konzerthaussaal stellten Orchester, Chor und Knabenchor der Warschauer Philharmonie sowie ein halbes Dutzend Solisten vier Werke polnischer Komponisten vor. In der Woche davor wurde im österreichischen Fernsehen das Auschwitz-Oratorium „Dies Irae“ von Penderecki gezeigt. Mit größtem Interesse sah man der österreichischen Erstaufführung

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Im Großen Konzerthaussaal stellten Orchester, Chor und Knabenchor der Warschauer Philharmonie sowie ein halbes Dutzend Solisten vier Werke polnischer Komponisten vor. In der Woche davor wurde im österreichischen Fernsehen das Auschwitz-Oratorium „Dies Irae“ von Penderecki gezeigt. Mit größtem Interesse sah man der österreichischen Erstaufführung

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von Pendereckis Lucas-Passion entgegen, die durch zahlreiche Aufführungen in verschiedenen Ländern sowie durch eine Schallplattenaufnahme bekannt geworden ist. Die Wiener Premiere fand in Anwesenheit des Komponisten durch ein ebenso prominentes wie solides polnisches Ensemble statt, kann also als authentisch gelten.

Jeweils zwei Dezennien liegen zwischen den Geburtsdaten der drei polnischen Komponisten, deren Werke auf dem Programm des ersten Konzertes im (gut besuchten) Großen Konzerthaussaal standen. Karol Szymanowski, 1882 geboren und 1937 gestorben, einer der bedeutendsten Spätromantiker und Neo-Impressionisten der europäischen Musik, steht auf der weitgeschwungenen Brücke, die von Chopin zur jungen polnischen Musik führt. Sein sechsteiliges „Stabat Mater“ für Soli, Chor und Orchester basiert auf Elementen der Gregorianik, die mit den Reizen und Farben einer schwelgerischen Harmonik und raffinierter Instrumentation ausgestattet sind. Die Ausdrucksskala reicht von introvertiertem Lyrismus bis zu ekstatischer Glaübensinbrunst. Von den Solisten

(Stefania Woytowicz, Krystyna Szczepanska und Andrzej Hiolski) zeichnete sich vor allem die Sopranistin aus, die seit rund 20 Jahren als Konzertsängerin einen internationalen Namen hat.

Witold Lutoslawski, Jahrgang 1913, legte in relativ kurzer Zeit den weiten Weg von der Folklore über die Dodekaphonik bis in die neuesten Klangräume zurück, wobei es ihm stets gelang, auch Kontakt mit dem Publikum zu finden. Seine zweiteilige II. Symphonie für großes Orchester ist erst im Juni dieses Jahres uraufgeführt worden. Der Komponist bedient sich darin des „aleatorischen Kontrapunkts“ auf ganz spezifische Weise: innerhalb genau abgegrenzter Partiturabschnitte wiederholen die einzelnen Spieler jeweils kleinste melodische Elemente, durch deren Summierung recht aparte Wirkungen erzielt werden. Die leidenschaftlichen Bläserfanfaren des Anfangs bleiben ebenso im Ohr wie eine Passage, in der das tiefe Summen der Celli und Kontrabässe von immer neuen Instrumentalgruppen aufgenommen und in die Höhe getrieben wird, bis das ganze Orchester von dieser sonoren Steigerung ergriffen ist und in gewaltigem Forte explodiert.

Krysztof Penderecki, Jahrgang 1933,

ist der Festival-Favorit seiner Generation und hat so etwas wie Popularität erreicht. Seit 1961, als in Donaueschingen seine „Anaklasis für Streicher und Schlagwerk“ uraufgeführt wurde, ist er nicht nur im Gespräch, sondern erscheint überall auf den Programmen der Weltmusikzentren. Damals — wie in einem seiner letzten Werke, dem in Wien erstaufge- führten „Capriccio“ von 1967 — experimentierte er mit neuen Klangmöglichkeiten: Drittel- und Vierteltöne, Glissandi und Flageolets, extreme Lagen und Tontrauben (Clusters) verleihen seinen Partituren ihre besondere Note. Dem großen, durch drei Saxophone, Vibraphon, elektrische Gitarre, Harmonium und Klavier bereicherten Orchester stellt er eine Solovioline gegenüber, deren Part ebenso phantasievoll wie virtuos und neuartig ist: huschende Passagen, trillerartige Läufe, rasende Tempi und Lagenwechsel fordern vom Solisten ein Maximum an Aufmerksamkeit, Einfühlung, Intelligenz und technisches Können. Wanda Wilkomirska, schlank und sprungbereit, eine aparte Erscheinung mit ihrem roten Haar und dem betont dezenten Kleid, spielte den Solopart brillant und mit kaum gebändigter Leidenschaft.

Übrigens hat sie 1967 das überaus schwierige Werk aus der Taufe gehoben. Für das Krakauer Ensemble und den Dirigenten Jerzy Katlewicz scheint diese Art von Musik zum täglichen Brot zu gehören. Alle Ausführenden wurden mit Recht lebhaft gefeiert.

In den Jahren 1963 bis 1965 schrieb Penderecki im Auftrag des WDR Köln die Partitur „Passio et mors domini nostri Jesu Christi secundum Lucam“ für Orchester, Chor, Knabenchor, drei Gesangssolisten und Sprecher. Die Uraufführung fand im Dom zu Münster, die polnische Premiere in Krakau statt. Nach zahlreichen anderen Städten folgte nun auch Wien bzw. die Wiener Konzerthausgesellschaft, der für diese Präsentation sehr zu danken ist. Auch wenn das Werk — wie der überfüllte Große Saal bewies — die hochgespannten Erwartungen nicht zu erfüllen vermochte. Aber hierüber darf der Kritiker nur von seinem Standpunkt, nach seinem eigenen Geschmack urteilen. Denn dein Applaus nach zu schließen, hat vielen, ja den meisten das Werk Pendereckis sehr gut gefallen. Mit den beiden großen Passionen Bachs hat das neue Opus nur ganz allgemein

die äußere Form gemeinsam: die Aufteilung der Leidensgeschichte in Soli, Chöre und einen Sprecher. Der gesamte Text wind in lateinischer Sprache gesungen, der Testis (Evangelist) spricht, meist zu einem Orgelpunkt, in tiefer Stimmlage. Die Musik Pendereckis ist lautmalerisch, hochdramatisch, expressionistisch — und scheut vor keinem Effekt zurück, auch nicht vor dem der Kinomusik. Von musikalischen Formen oder sakraler Stilisierung kann kaum die Rede sein. Da Penderecki auch noch andere, bessere Partituren geschrieben hat, und da diese Lucas-Passion so vielen gefällt, scheut man sich fast, niederzuschreiben, daß es sich hier um eine Musik für Unmusikalische handelt. Gelingt es ihr dennoch, den Text und damit das Geschehen der Passion den Menschen näherzu

bringen, so hat sie für den Tag und die Stunde ihre Aufgabe erfüllt. Die Aufführung durch das Krakauer Ensemble mit den Solisten Stefania Woytowicz, Andrzej Hiolski, Bernard Ladysz und Leszek Herdegen war sehr eindrucksvoll und wurde mit minutenlangem Applaus bedankt.

Das vom österreichischen Fernsehen gesendete Auschwitz-Oratorium von Penderecki stellt uns vor ähnliche Probleme. Die vom Komponisten ausgewählten und ins Lateinische oder Griechische übertragenen Texte von Aischylos bis Aragon sind in drei Teile gegliedert: „Lamentatio“, „Apokalypsis“ und „Apotheosis“. Dieses Femsehspiel mit dem Titel „Dies Irae“ ist aber in seiner Vermengung von Ballettszenen und echten eingeblendeten KZ-Bildem eine höchst fragwürdige Kunstgattung, die man kurzerhand als geschmacklos bezeichnen würde, wäre nicht die Absicht des Autors und aller Mitwirkenden spürbar, den beklagenswerten Opfern von Auschwitz ein Denkmal zu weihen. (Regisseur: Helmut Rost, Choreographie: Jean Deroc.)

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