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Zeitgenössisches Musikschaffen in Polen

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Die heutige polnische Musik kann sich nicht über den Mangel an begabten Komponisten beklagen, was übrigens auch in der Vergangenheit nie der Fall gewesen ist. Die tragische Geschidite des Landes, die unzähligen Hindernisse und Schwierigkeiten, welche die Entwicklung des Kunstlebens hemmten, bilden die Ursache dafür, daß die polnische Musik in der großen Musikwelt eine verhältnismäßig geringe Rolle spielt. Das Land mußte auf diesem Gebiete weit hinter der europäischen Entwicklung zurückbleiben und wirkliche, schöpferische Talente kamen infolge der Enge des Horizonts und der Unzulänglichkeiten der Aufführungsmittel nicht zur Entfaltung. Das geniale Schaffen Friedrich Chopins konnte leider nicht die Ideologie der polnischen Komponisten des vorigen Jahrhunderts revolutionieren; Chopins Schaffenskraft, die bei anderen Völkern so vielfältig weitergewirkt hat, fand in Polen nur in einem unfruchtbaren Epigonentum Ausdruck. Erst die große Komponistenpersönlichkeit Karol Szymanowskis (t 1937) brachte die musikalische Produktion der Polen wieder auf europäisches Niveau. Er durchbrach als erster die Erstarrung des polnischen Musikschaffens, das bis zu dieser Zeit hartnäckig nur den deutschen Vorbildern des 19. Jahrhunderts gefolgt war. Außerdem gelangte Szyrrunowski mit seiner Kompositionstechnik zu einer bisher in Polen noch nie erreichten Höhe. Der berühmte polnische Dirigent Grzegorz Fitelberg, ein Freund und gläubiger Anhänger Szymanowskis, machte fast die ganze Welt mit den Werken dieses hervorragenden Komponisten bekannt.

Szymanowski wurde zum Vorbild und Führer aller jüngeren polnischen Komponisten, und es ist selbstverständlich, daß jeder von ihnen in seiner Entwicklung eine Zeit größerer und geringerer Abhängigkeit von Szymanowski erlebte. Diese Tatsache ist jedoch bei einer allgemeinen Charakteristik des heutigen polnischen Musikschaffens von geringer Bedeutung. Schließlich fanden die polnischen Komponisten doch ihre eigenen Wege oder suchen eine Anlehnung an die großen Komponisten des Auslandes (Igor Strawinski, Albert Roussel und andere). Jedenfalls aber ermöglichte erst das Werk Szymanowskis das heutige* Aufblühen der polnischen Musik. Ihm verdankt die Kunstatmosphäre, in der sich heute die jungen schaffenden Talente entwickeln, eine günstige Veränderung, und der Komponisten-dik,tantismus verschwand unter seinem Einfluß fast gänzlich aus dem polnischen Musikleben.

Der Aufstieg der jungen polnischen Musik begann bereits einige Jahre vor dem Krieg. Neben Szymanowskis Werken begannen in den Programmen der Musikzentren der Welt immer wieder neue Namen polnischer Komponisten aufzutauchen. Die Werke dieser jungen Polen, um nur Kondracki, Palester, Perlt o w s k i, Szalowski und W o y t o-w i c z zu nennen, zeichneten sich immer durch interessante Invention und ein tadelloses Niveau der Komposition aus. Sie bewiesen in vielen Fällen ein radikales künstlerisches Programm.

Die Katastrophe .^im September 1939 und die sechs Jahre der deutschen Besetzung konnten das polnische Ku.turleben nicht vernichten; im verborgenen glomm es weiter. Der unerschütterliche Glaube des polnischen Volkes an den Sieg fand auch in der Stellung der polnischen Komponisten seinen Ausdruck. Nach einem kurzen Zeitraum der Anpassung des eigenen Lebens an die spukhaften Okkupationsverhalrnis.se nahmen die Komponisten ihre Produktion wieder auf.

Das im September 1945 in Krakau veranstaltete Musikiest, der zeitgenössischen polnischen Musik gewidmet, gab eine Ubersicht über die Leistungen der Komponisten während des Krieges und war zugleich eine imposante Künstlermanifestation. Der Glaube, daß die polnischen Komponisten eine bedeutende Rolle in der zeitgenössischen Musik spielen werden, sobald die Nachkriegslage Europas einen freien Austausch der Kulturgüter zuläßt, ist voll berechtigt. Trotz der empfindlichen Persönlichkeitsverluste, trotz der nie wieder gutzumachenden Vernichtung vieler Manuskripte besitzt die polnische Musik heute wieder einen vielversprechenden Reichtum an schaffenden Kräften.

Das hervorragendste Müsikereignis der letzten Zeit war die Aufführung der II. Symphonie von Roman P a 1 e s t e r auf dem Musikfest in Krakau. Diese Symphonie ist ein reifes, großzügiges Werk, monumental sowohl im architektonischen Bau wie auch in der Thematik. Vor allem enthält sie eine sehr starke emotionale Note, was bei Palester neu ist. Palesters Musik, voll rhythmischen Feuers, oft widerspenstig, gerne das Groteske streifend, überfließend im Glanz der orchestralen Farben, wich früher — als ob sie sich ihrer schämen würde — Stimmungen aus. Nachdem sie heute fast schon das vollkommene Gleichgewicht erreicht hat, wirkt sie aufrichtig und nicht nur hinreißend, sondern auch rührend.

Die bereits nach dem Kriege komponierte II. Symphonie von Boleslaw W o y-t o w i c z hat ebenfalls hohen künstlerischen Wert. Das bedeutende Werk dieses Komponisten wurde durch den Brand von Warschau fast gänzlich vernichtet. Seine H. Symphonie ist eine interessante Verschmelzung von svmphonischer Dichtung und Symphonie. Der Komponist ziseliert ungewöhnlich sorgfältig seine Werke und

experimentiert gerne und mit vollem Erfolg auf dem Gebiet der Form („Zehn Variationen in der Form einer Symphonie“ t kurz vor dem Kriege aufgeführt). Die in klassisdien Formen gehaltene II. Symphonie hat jedoch eine programmatische Unterlage, worauf das stoffliche Material hinweist (das patriotische Lied „Warszawianka“, das Lied der Panzerbrüder, für ein geheimes Soldatenliederbuch in der Okkupationszeit von Woytowicz komponiert, sowie volkstümliche und gregorianische Themen). Der Komponist drückt in der Symphonie die Leiden des Volkes in der Okkupationszeit und die Freuden über die Befreiung vom deutschen Joch aus Ohne Rücksicht jedoch auf dieses oder ein anderes literarisches Programm ist die Symphonie von Woytowicz, die in jedem Takt die feste Hand eines reifen Künstlers aufweist, ehrliche Musik mit hohem Gefühl.

Neben diesen zwei Symphonien gibt es noch zwei sdiöne symphonische Debüts. Artur Malawski brachte auf dem Krakauer Musikfest eine ausgezeichnet aufgebaute, an schönen und edlen Gedanken reiche Symphonie. Malawski ist ein hervorragendes Talent und beherrscht ausgezeichnet das kompositorische Handwerk.

Andrzej Panufnik, Komponist von zwei Symphonien und einer „Tragischen Ouvertüre“, erwies sich gleichfalls als geborener Symphoniker. Seine Musik wächst in natürlicher Weise aus der Orchesterfaktur. Seine I. Symphonie, die bereits durch mehrere Aufführungen bekanntgeworden ist, zeigt weitgeschwungene Melodien und selbständigen musikalischen Ausdruck. Reifer als die Symphonie ist die spätere „Tragische Ouvertüre“, die sich in Polen großer Popularität erfreut.

Von den neuen Orchesterkomponisten sind hervorzuheben: Kazimierz Si k o r s k i mit seinem „Symphonischen

Allegro“ und seiner „Ouvertüre“ für kleines Orchester, Graz y na Bacewiczowna mit ihrer effektvollen „Ouvertüre“, Jan A. M a k 1 a k i e w i c z mit seiner symphonischen Dichtung „Grundwald“ (bisher das einzige Werk in Polen, das an die letzten Kriegsereignisse anknüpft), Z y g m u n t M y c i e 1 s k i mit seinen „Symphonischen Skizzen“ und Witold Rudzinski mit seinem „Divertimento“ für ein Streichorchester. Während der Okkupationszeit

entdeckte der Kritiker und Musik hrift steller Konstanty Regamey seir. schöpferisches Talent und schuf ein sehr interessantes Quintett sowie Lieder für Bariton und Orchester.

Auf dem Gebiete der Kammermusik ver dient das Trio für Oboe, Klarinette und Fagott von Witold Lutoslawski besondere Beachtung. Das Werk ist sehr abstrakt, weist jedoch einen großen Reichtum an kompositorischen Mitteln auf. Lutoslawski konnte bereits einen eigenen, ganz individuellen Stil entwickeln, und so erwartet man in Polen mit großem Interesse seine „Symphonie“, mit welcher der Kom ponist in Kürze vor das Publikum treten wird.

Tadeusz Kassern schrieb eine in teressante Sonatine „Trauer-Triptychon“ für Gesang und Klavier Das Werk stützt sich auf alte Themen der Weihnachtslieder und Melodien der Kantionaten des 16. Jahrhunderts. Stefan Kisielewski trat mit Präludien und Klavierfugen hervor. Vor kurzer Zeit erschien ein neues Klavierkonzert von Tadeusz Szeli g o w s k i. Es ist farbenprächtig und mit guter Kenntnis des Instruments komponiert.

Die anderen polnischen Komponisten dagegen begnügen sich mit Wiederaufführungen früherer Werke.

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