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Weihnachtliche Lebensbäume

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Das Besondere an dieser Erstgestaltung großer Kirchenkrippen bleibt für uns heute, daß dieser Tiroler Propst auch noch ältere naturmystische Symbole miteinbezog, daß er nämlich die Krippe durch zwei mit Äpfeln besteckte Tannenbf ime flankieren ließ, und zu diesem Zwecke vorsorgte, daß eine Geldgabe zur regelmäßigen Ablieferung geeigneter Tannenbäume und Tannenzweige aus dem Stiftswald gesichert bleibe. Der Raum, in dem diese Krippe aufgerichtet wurde, befand sich nämlich etwas niedriger als die anschließende Kirchenhalle, unter dem Turm; er stellt den Vorraum des Heiligtums selber dar. Solche derartige Vorräume, auch solche fürstlicher Gemächer hieß man Paradies, Paradeis oder Paradeisl. Die beiden Tannen bäume sollten demnach Bäume aus dem Paradies, Bäume des ewigen Lebens, weniger solche der Erkenntnis darstellen. Vereinzelt begegnen uns solche noch an alten Bildern oder an Federkielstickereien von Frauen; andere gehen in Wunder- und Wunschbäume über, die menschliche Sehnsüchte bekunden, so an einem Wandgemälde des Schlosses Lichtenberg im oberen Vinschgau oder jene, die in I. V. Zin- gerles Märchen „Zistel im Körbt“ festgehalten sind. In Süddeutschland heißt man vereinzelt noch heute diese weihnachtlichen Lebensbäume Paradiese schlechthin. In Osteuropa wurde dieser Lebensbaum zum Weltbaum in Ornament und Volksvorstellung erhoben.

Das verlorene Paradies

Daraus ergibt sich schon, daß der heutige Christbaum bis zu den frühesten naturmythischen und biblischen Vorstellungen und Überlieferungen zurückreicht, die im Bildungszentrum Neustift vereinigt und besonders erhalten wurden, bis er, in Tirol erst vor rund 120 Jahren, als Sammelpunkt des Familienfestes sich in seiner heutigen Bedeutung durchsetzte und von der Innsbrucker Hofburg aus übers ganze Land ausbreitete. Selten kommt dabei zum Bewußtsein, daß der 24. Dezember der Tag Adams und Evas im Paradiese ist und vor allem der christlichen Erinnerung an das verlorengegangene Paradies gelten will, welches das zu erwartende Jesuskind den Lebenden zurückgewinnen will. Diesem christlichen Grundgedanken entsprechen nicht nur die alten räumlichen Paradiese, sondern erst recht die alten Paradeisspiele mit ihren Paradiesbäumen, wie sie noch bei den Bergbauleuten des Wipptales seit dem 16. Jahrhundert und in den vordersten Auftritten von Umgängen der kirchlichen Restauration vorgestellt worden waren, also sich ihre Symbolkraft in der nächsten Umwelt von Neustift stark bewahrten.

Damit ist aber auch schon gesagt, wie gerade der Tiroler Propst zu dieser Einführung der Krippe mit den Paradiesbäumen hingelenkt worden war. Genauere Aufschlüsse boten die Schilderungen tirolerischer

Mysterienspiele des ausgehenden Mittelalters, die außerdem gerade im älteren Neustift ihr zunächstliegendes Vorbild besessen hatten. Den Rechnungen der nahen Sterzinger Aufführungen, angeführt im Band „Tirol in Sterzing“ (Innsbruck 1964), ist zu entnehmen, daß die Bodenerhöhung, welche im Chorraum der dortigen großen Pfarrkirche errichtet wurde, mit Tannenbäumen eingekreist wurde, um damit an den Raum des Paradieses und an die darin abgespielten Ereignisse zu erinnern, mit deren Vorstellung entwicklungsgeschichtlich diese Darbietungen eingesetzt hatten. Aus dieser Vorstellung heraus hieß der Vorraum der Neustifter Propsteikirche, die heute den Ehrentitel Basilika führt, Paradeis. Dort setzte auch tatsächlich der Umgang ein,

der die Heilsgeschichte der Kirchengemeinde vorzuführen pflegte. Was liegt näher, als daß dieser hiebei in Erinnerung an die Weihnachtsfeier des heiligen Franziskus in Greccio a„ch mit frischem Grün, im Berg land eben mit Tannenbäumen aus der starken Naturmystik und aus dem Jahreszeiterleben in den Alpen gekennzeichnet worden war, welche an die des Paradieses erinnern sollten? Darnach war nicht erst der apfelbesteckte Tannenbaum an die Seite der Krippe von 1621 gerückt worden, sondern solche wahrscheinlich schon drei Jahrhunderte zuvor zu jenen Prozessionen, welche die Erlösung zu veranschaulichen und hier in der Paradeiskapelle zu beginnen hatten.

Der Tannenbaum als Zier der Alpen

Propst Berthold I. (1314—1326), ein Förderer mysterienhafter Ausgestaltung festlicher Offizien, hatte die Paradeiskapelle mit verschiedenen Darstellungen der Ereignisse aus dem Alten und Neuen Testament, beginnend mit dem Bild des Paradieses, ausschmücken lassen. Eines davon hatte den Antichrist mit schreckenerregendem Angesicht vorgestellt, weshalb Propst Hieroni- mus II. es auf Kapitelbeschluß um 1670 übertünchen ließ. Da mag das Bild vom Paradies mit seinen Para diesbäumen nicht minder wirklichkeitsnahe und heimatlich ausgeführt gewesen sein!

Der Tannenbaum war als immergrünende Zier der Alpen gewählt worden, abweichend von den Weih- nachtsmayen, die als Zimmerzier und Deckengehänge in tannenferneren Städten der Ebenen, wie Straßburg oder Preßburg, angebracht wurden. Im oberösterreichischen Landesmuseum zu Linz befindet sich jetzt eine Krippe, die aus einem aufgehobenen Kloster und von einem Tiroler Krippenbauer aus der Zeit um 1740 stammen dürfte; denn sie zeigt im Oberbau das Bild der Tiroler Landes- und Standesheiligen Notburga von Rottenburg und Eben in Unterinntaler Tracht und mit dem Symbol der Erntearbeit, der Sichel, im Hinter grund des Stalles von Bethlehem Ochs und Esel im Nachleben gotischer Auffassung. Die Seitenstücke veranschaulichen auch hier Paradiesbäume, aber nicht Tannenbäume, sondern solche von Orangen,

die in der Weihnachtszeit ihre Früchte spenden, in Porzellankübeln wie von Delfter Porzellan. Hier ist also die alpine Vorstellung des mit seinen meisten Pfarren dem nördlichen Klima gerade noch zugekehrten Neustift schon dem Süden gemäß symbolisiert. Vizedirektor Dr. Franz Lippi (Linz) nimmt angesichts der Wachsfiguren an, die Krippe gehörte ehedem dem Kloster Gleink bei Steyr.

Der Brauch des Kindelwiegens

Unter den Sterzinger Volksschauspielhandschriften befand sich ein Spiel des Kindelwiegens, wahrscheinlich aus Bozen. An diesen Brauch hielt sich noch Mitte des 16. Jahrhunderts die Brixner Jugend, bis in die neuere und neueste Zeit das eine und andere Frauenkloster und bis heute die Pfarrgemeinde St. Lorenzen im tirolisch-kärnt- nerischen Leisachtal. Im Verfasserlexikon „Die deutsche Literatur des Mittelalters“, herausgegeben von Wolfgang Stammler und Karl Langosch (Band 5, Spalte 871/83, Berlin 1955) ist das Spiel selbst näher gekennzeichnet. Der Brauch des Kindelwiegens kam während des Hochmittelalters in Frankreich zur Geltung und wurde im 14./15. Jahrhundert in deutschen Ländern an mehreren Orten üblich. Der Sterzinger Tischler Felix — ist es derselbe, der dem dortigen Spielorganisator Vigil Raber die Handschrift eines Villacher Passionsspiels zum Kopieren vermittelte? — hatte im Jahre 1549 am Jessesli, so mans zu unser frauen (= der Frauen- und Pfarrkirche Sterzings) zu Weihnachten wiegt, zechler, vingerle und kreitzli ze machen, und Maler Vigil Raber selbst bald darauf die zechler (Zehen) und vingerln (Fingerlein) und das kreitzli zu übergulten (vergolden). Etliche solcher Wiegen und bildhafte Wiedergaben stellen diese Wiegen und ihren Brauch noch uns Heutigen vor. Die Figur des Kindleins mit dem Kreuzlein in den Händen wurde nach dem Wiegen, Singen und Hüpfen von der Jugend wieder an sėinen Platz gebracht, zumeist auf einen Altar, der mit frischem Grün, mit Tannenzweigen geschmückt war.

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