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AUS DEN SGRAFFITI

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Wer orientiert ist, heimst den Lorbeer ein. Die neue Welt wurde nach Amerigo Vespucci benannt und nicht nach Kolumbus, der sie entdeckt hatte. Aber Kolumbus glaubte bis an sein Ende, daß er nur einen neuen Seeweg befahren hätte, während Vespucci der erste war, der sich für den Entdecker eines neuen Kontinents hielt. Das war mehr als eine Entdeckung, es war eine Konzeption.

Wer zuerst eine Sache nichtig benennt, hat den Vorrang vor dem, der sie zuerst gesehen hat. Beiden überlegen ist derjenige, der eine Sache richtig benennt, bevor er sie gesehen hat.

Ob es eine objektive Entsprechung der Erinnerung gibt, ein Reservoir für sie? Dann würden wir in jedem Augenblicke hier ab- und einem Unbekannten zusterben, hier ab-, dort zunehmen. Die Frucht, die Ernte erfüllten Lebens wird in unsichtbaren Schreinen angehäuft. „Im Innern ist's getan.“ Der Tod ist der Schlußstrich, die Summe erscheint jenseits der Zeit. Wir treten in unsere Schatzkammer ein, wenn der Tod ihre Stahlwand zerschmilzt. Wir finden dort wieder, was am Bekannten unbekannt war.

Im Grunde ist nichts schwieriger, als ein reicher Mensch zu sein. Das Gleichnis vom Nadelöhr und vom Kamel gilt nicht nur für den Heilsweg, es gilt auch auf der irdischen Bahn.

Der Vergleich des Reichtums mit einem Vergrößerungsglas, das seine Strahlen auf den Träger des Reichtums sammelt, läßt sich auch dahin ausdehnen, daß es nach der anderen Seite hin zerstreut. Der Hauptnachteil des Reichtums liegt darin, daß er die Konzentration verhindert und damit die Pforten zum Wunderbaren schließt. Sie tragen viele Namen: Meditation und Kontemplation, Intuition und Konzeption. Ekstase und Askese — auch Armut steht darauf.

Das gilt auch für die Kunst. Der Künstler lebt fast immer, vor allem in der Jugend, in beschränkten, oft dürftigen Verhältnissen. Die Meinung, daß er mehr und Größeres schüfe, wenn dem anders wäre, zählt zu den gängigen Irrtümern. Sowohl was Essen und Trinken als auch was Geld und Genüsse betrifft, gehen viel mehr Menschen am Überfluß zugrunde als an der Not. Auch für den Künstler gilt das Wort vom Nadelöhr. Er braucht nicht Reichtum, er braucht Muße, und auch das gehört zu den Irrtümern: daß Geld Muße schafft. Geld, und vor allem viel Geld, ist vielmehr der Muße schädlich, indem es ablenkt und zerstreut. Wer zum Werk berufen war, hat daher auch immer den besseren Zugang zur Muße gefunden, nämlich das Opfer; er hat gehungert und gefroren, hat sich in zugigen Dachkammern verschanzt. Das ist der klassische Weg. Die Sorge des Dichters richtet sich nicht auf die Rente, sie richtet sich darauf, daß er die Souveränität behält. In Zeiten, in denen Staat und Gesellschaft, ja die Künste selbst suspekt werden, bleibt er vielleicht der einzige, bei dem Götter noch einkehren.

Der Geiz sehr reicher Leute hat magische Gründe insofern, als sie im Gelde die Quelle ihrer Macht erkennen, die Größe, in der sich die ihre spiegelt, die ihnen Nimbus gibt. Versiegte diese Quelle, würde diese Größe nicht mehr geachtet werden, so stünden sie sogleich in ihrer Dürftigkeit. Wenn sie sich daher täglich, stündlich der Macht des Geldes vergewissern wollen, so gründet dieses Bestreben tiefer als im ökonomischen. Das Geld ist ihre Monstranz. Sie zeigen es, wie der Herr über Leben und Tod die Ruten u.id Beile zeigt. Sie wollen den Kotau genießen, die göttliche Verehrung, die ihrem Herrn gezollt wird, und daraus erklären sich Paradoxa wie jenes, daß sie hartnäckiger als der Arme um den Preis feilschen. Sie weisen den Armen weniger deshalb ab, weil sie das Almosen reut, als deshalb, weil die Macht des Geldes in seiner Verzweiflung überzeugender zum Ausdruck kommt als in seinem Dank.

In der Betrachtung steckt Freiheit, ja Souveränität. Im Maß, in dem es dem Menschen glückt, sich seine Lage „darzustellen“, sie zum Gegenstande seines betrachtenden Geistes zu machen, löst er sich aus ihr und erhebt sich über sie.

Zum Beispiel liegt es kaum in der Freiheit des einzelnen, zu verhindern, daß der Staat ihn auf seine Schlachtfelder schickt. Wohl aber liegt es in seiner Freiheit, den Standort des Beobachters einzunehmen, und damit stellt er den Staat in seine Dienste, etwa als Veranstalter gewaltiger Schauspiele. Das wird ihm freilich nur möglich werden, wenn er zuvor in seiner inneren Arena den Triumph über die Furcht errungen hat. Daher sind der Beobachter immer nur wenige.

Durch innere Teilnahme führt die Betrachtung über die feine ' BebTäaehYüng hinaus.. In dieser Weise 'erhebt' sich Dostojewski selbst über die dunkelste Gefangenschaft inmitten ungezählter Scharen von stumpf und ohne höheres Bewußtsein Leidenden. Er hebt sie ins Licht, führt ihnen Anteilnahme zu.

Die Betrachtung kann höchste Formen erreichen, indem die Lage als Prüfung begriffen wird oder als Stoff eines Kunstwerkes. Sie wird dann über die Ablösung zur Erlösung hinausführen, und zwar nicht nur für den einzelnen, sondern durch ihn stellvertretend auch für viele andere.

Die Neugier des Menschen ist unersättlich; es gibt nichts, was ihn nicht zur Enthüllung, zur Entschleierung reizt. Trotzdem hat er keine Augen im Hinterkopf. Daher wachsen ihm, während er vorne die Deckel lüftet und Decken fortzieht, im Rücken Geheimnisse zu, und nicht immer gutartige. Oft gleicht er, besonders wo er seine Neugier als Wissenschaft befriedigt, einem Lakaien, der durch das Schlüsselloch starrt, ohne zu merken, daß hinter ihm bereits der Stock geschwungen wird.

Selbst der Mann auf der Straße hat bei besonders unverschämten Fällen des Tabubruches, etwa der Grabschändung, den Eindruck, daß hier Züchtigung am Platze sei. Daher sind Anekdoten nach dem Muster vom „Fluch der Pharaonen“ so beliebt.

So einfach liegen leider die Dinge nicht. Doch gibt es eine Reihe von Korrekturen, die verhindern, daß der Baum in den Himmel wächst. Zu ihnen gehören nicht nur höchst gefährliche Wendungen, sondern auch winzige Veränderungen, die in der Summe das Gegenteil des Beabsichtigten ausmachen. Der Mann, der in der Wüste voranzugehen meint, kommt endlich auf seine Spur zurück. Ganz ähnlich gibt es beim Tabubruch Bewegungen, bei denen man sich selbst in den Rücken fällt. Man hat eine Schleife gemacht...

Ich habe lange Strecken meines Lebens mehr in Büchern als in Häusern und Staaten gelebt.

Bücher haben den Vorteil fahrbarer Wohnungen, mit idealem Komfort. Sie löschen daher andere, weniger angenehme Fahrten und Wohnungen. Sie können eine Nacht in der Eisenbahn verklären, den feuchten Beton eines Bunkers in Edelstein umschmelzen.

Der Gedanke, den Winter an sonnigen Küsten zwischen den Wendekreisen überspringen zu wollen, ist angenehm, aber falsch. Wir fordern vom Lebensbaume Blüten im ganzen Jahr. Aber auch in den Tropen werfen die Bäume die Blätter ab. Die Winternacht ist uns nicht minder notwendig als die Tagesnacht. Wir müssen, auch was das Herz betrifft, auf Ebbe und Flut achten. Wer immer Flut haben möchte, setzt sich dem Dammbruch aus. Wir können nicht immer schmerzlos, nicht ohne Schatten sein, müssen auch bei der Melancholie einkehren.

Die angeborene Kurzsichtigkeit kann ausgeglichen werden durch Altersweitsichtigkeit. Die Sicht wird schärfer als je. zuvor.

Die ungestüme Lebenskraft der Jugend kann nach Überwindung der Zerstörungszone ausgeglichen werden durch die Schwerkraft des Alters und ihren Gegenzug. Dann kann uns physisch, moralisch, geistig ein gutes Gleichgewicht, ein vo\]g kommener Herbst werden.

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