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Das lange verlorene Paradies

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Was ist aus der guten alten Sommerfrische samt ihrer erholsamen Ruhe im Zeitalter des Massentourismus geworden?

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Was ist aus der guten alten Sommerfrische samt ihrer erholsamen Ruhe im Zeitalter des Massentourismus geworden?

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“T“ icht weit von der Groß- stadt entfernt liegt in- mitten bewaldeter Hü- gel ein stilles, kleines Tal. Es wird von den 1 Einheimischen „Paradies“ genannt. Zuerst mag einem das leicht übertrieben vorkommen, aber lernt man es erst kennen, weiß man, dieses kleine Tal verdient seinen Namen zu Recht! Wir, mein Mann, unser kleiner Sohn und ich, lernten es kennen, als wir in einem Ort in der Nähe des Tales Urlaub machten. Das war im Jahr 1961, in dem Jahr, als die Berliner Mauer gebaut wurde und Kennedy sagte: „Ich bin ein Berliner!“

Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer und wir beschlossen schon am zeitigen Morgen das „Paradies“ aufzusuchen, um der großen Hitze zu entgehen. Zuerst führte uns der Weg über Felder und Wiesen, die Sonne heizte die Luft trotz des frühen Morgens schon ganz schön auf. Ich wurde unmutig und dachte mir: „Wären wir doch lieber in ein Bad gegangen!“ Aber dann lag es vor uns, ein schmales Tal, eingebettet in Wäldern soweit das Auge reicht! In der Mitte fließt ein kleines Bächlein, es murmelt und plätschert, man kann es nicht überhören. Libellen, in verschiedenen Größen und Farben schwirren über es hinweg. „Schau“, sagt mein kleiner Sohn, „sie sehen aus wie kleine Hubschrauber!“ Ach ja, er ist ein Kind seiner Zeit und kann selbst im Paradies die Technik nicht vergessen!

Wir gehen den schmalen Weg entlang des Baches tiefer in das Tal hinein. An einigen Stellen ist der Weg feucht und in dem weichen Boden finden wir Tierspuren. Wir versuchen uns als Fährtenleser, waren es Rehe? Oder Hasen? Nein, schon eher Rehe, man sagte uns ja, daß es hier viele gäbe. Der Weg und der Bach führen nun in das Innere des Waldes. Wie angenehm umfängt uns seine Kühle! Abgeschirmt durch die Kronen der hohen Fichten und Föhren verlieren die Sonnenstrahlen an Kraft und zeichnen kleine, helle Flecken auf den mit Nadeln bedeckten Boden. Ein Feuersalamander hat sich verspätet und schlängelt sich so schnell er kann einem feuchten Moospolster entgegen, unter dem er den heißen Tag geschützt verbringen wird.

EINE JAUSE IM GRÜNEN

Auf einer kleinen Lichtung steht eine Bank, gestiftet vom „Verschönerungsverein“. Hier wollen wir bleiben. Zuerst müssen wir uns stärken, mitgebrachte Brote und eine Thermosflasche mit Tee („Kein Coca-Cola?“) werden ausgepackt. Nachher zieht mein Mann eine Zeitung hervor - er hat immer eine dabei, weiß Gott, wie er das macht! — und vertieft sich in sie. Ich habe mir eine Strickerei mitgebracht, aber zuerst muß ich meinem kleinen Sohn ein Boot aus Kiefernrinde schnitzen. Ich versuche mein Bestes, aber es ist ‘ trotzdem nur mit größter Phantasie als Schiff zu erkennen! Er aber hat Phantasie und ist nun eine Weile damit beschäftigt, das Boot den Bach ein Stück hinunterschwimmen zu lassen, es wieder heraus zu fischen und das Spiel so lange zu wiederholen, bis er es leid ist. Aber auch dann ist ihm nicht langweilig: er legt einen Garten an, zäunt ihn mit kleinen Asten ein, zuletzt kommen Fichten- und Föhrenzapfen hinein, das sind die Tiere …

Ich sitze auf dem Bänkeri vom Verschönerungsverein neben meinem lesenden Mann, die Strickerei bleibt heute in der Tasche und höre dem Wald zu: der Wind streicht leicht durch die Bäume, es wispert und rauscht, der Eichelhäher ruft seine Warnung über unsere Anwesenheit durch den Wald und in der Nähe keckert ein Eichhörnchen. Al les Laute haben wir draußen gelassen, alle Hast und Betriebsamkeit abgelegt, hier im Paradies haben wir das gefunden, was wir suchten: Ruhe und viel, viel Zeit …

DIE NATUR NOCH UNGESTÖRT

Wir brechen auf, wollen dieses zauberhafte Tal noch ein wenig erforschen. Der Bach und mit ihm der Weg, führt wieder hinaus ins Freie. Eine Ringelnatter erschrickt und flüchtet unter die großen Huflattich - blätter am Bachrand. Oben, am tiefen Blau des Himmels, zieht ein Bussard seine Kreise. „Er hat die besten Augen“, erkläre ich meinem kleinen Sohn, „von dort oben kann er jede Maus sehen, auf die er sich dann stürzt, um sie zu fressen!“ Davon will mein Sohn jedoch gar nichts wissen, die kleinen Mäuse tun ihm leid, sie gefallen ihm und der Gedanke, daß es von Mäusen nur so wimmelte, gäbe es keinen Bussard, - erschreckt ihn überhaupt nicht!

Wir sind am Ende des Tales angelangt, müssen umkehren. Der Rückweg dauert noch länger als der Hinweg, denn wir entdecken reife Brombeeren in paradiesischer Hülle und Fülle! Und Größe! Wer die größte Brombeere findet ist der Brombeer-König! Und wer findet sie? Natürlich unser Sohn! Und wird gebührend gefeiert. Als wir das „Paradies“ verlassen, nimmt er mich an der Hand und fragt: „Ist das das Paradies von Adam und Eva?“ Wohl kaum. Aber es war unser Paradies und ich weiß jetzt schon, ich werde mich, zurückgekehrt in den Alltag, immer danach sehnen …

30 Jahre später: die Berliner Mauer gibt es nicht mehr, aber das „Paradies“ auch nicht mehr! Die Menschen haben es zerstört. Sie haben den Bach zu einem kleinen See aufgestaut und Ferienhäuser und eine Badeanstalt an seine Ufer’ gebaut. Ebenso ein Restaurant und einen Minigolfplatz und natürlich eine asphaltierte Straße, damit man mit dem Auto bequem ins Paradies fahren kann, das keines mehr ist. Die Ruhe, wie man sie nur in der Natur finden kann, ist weg. Laut plärren die Radios, die Badenden kreischen, die Autos vergiften mit ihren Auspuffgasen die gute Luft!

Wie glücklich bin ich, einmal im Paradies gewesen zu sein, als es noch eines war …

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