6608209-1954_33_06.jpg
Digital In Arbeit

Das Publikum Jer Salzburger Festspiele

Werbung
Werbung
Werbung

Die Salzburger Festspiele sind im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens eine in Europa und Amerika berühmte Institution geworden, und man kann heute von ihrem Publikur. sprechen, das sich aus wiederkehrenden und aus wechselnden Elementen zusammensetzt, aber im ganzen doch eine erkennbare Physiognomie gewonnen hat, über die Veränderungen hinweg, die von Jahr zu Jahr merklich werden. Das Verhältnis zum Publikum aber ist die oberste Wirklichkeit beim Theater. Die „unbekannte Menge“ ist nicht auf die Dauer unbekannt. Zwischen ihr und dem Theater ist ein Fluidum. Das Publikum beherrscht das Theater auf geheimnisvolle Weise, indem es seine Wurzeln nährt. Und wie der Erdboden zu gewisser Zeit gewissen Samen die größte Lebenskraft verleiht, andere gerade nur duldet, zu anderen Zeiten „anbaumüde“ wird und des Wechsels bedarf, so verhalt sich das Publikum zur theatralischen Darbietung.

In allen Ländern besteht heute eine Krise des Theaters, die zugleich eine geistige Krise des Publikums ist, aber die Auffassung dieser Krise selbst ist in jedem Land verschieden. In Deutschland, besonders in Berlin, betont man sie, zieht sie unaufhörlich in Diskussion und reflektiert über sie philosophisch und kulturpolitisch; in Paris, der Stadt des Traditionalismus, ist man eher bestrebt sie zu verschleiern. In Amerika, dem Land der Hoffnung und des Aufschwunges, betrachtet, man sie als Entfaltung neuer Kräfte, als Präludium einer neuen auch geistig riesenhaften Entwicklung und niemand kann sagen, daß diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen kann. Man kann nicht behaupten, daß Salzburg von dieser Krise unberührt bleibt, aber es gleicht jenem Punkt des Schiffes, der bei hohem Seegang den verhältnismäßig geringsten Schwankungen ausgesetzt ist, und das vermöge der höchst eigentümlichen Zusammensetzung seines Publikums. Denn das Publikum dieser Festspiele ist die Synthese aus drei oder vielleicht vier ziemlich verschieden gearteten Zuschauergruppen, jede ein Publikum für sich, die unter sich gesellschaftlich und ihrem Geschmack, ja ihrer Weltanschauung nach ziemlich inkohärent wären, — würden sie nicht durch eins gemeinsame Kraft, eben die Salzburger Festspielatmosphäre, vorübergehend zur Einheit zusammengehalten. Und die Festspiele werden meines Erachtens richtig geleitet sein und an Macht zunehmen, solange es ihrer Leitung gelingt, diese atmosphärische Einheit zu erhalten. Es geht zunächst durch dieses Publikum die eine große Spaltung, daß es zur Hälfte großstädtisch, zur anderen nicht geringeren Hälfte ungroßstädtisch ist. Ich sage „ungroßstädtisch“ und würde mich aufs äußerste scheuen, das Wort „provinziell“ zu gebrauchen — um seines Nebenklanges willen, der mir durchaus nicht erwünscht wäre, und ebenso wenig schiene mir das Wort „ländlich“ am Platze. Aber wenn ich mich der vielen Begegnungen mit Zuschauern erinnere, die eben ihr Leben in ungroßstädtischer Sphäre verbringen und die nach Salzburg kommen und vielleicht in dieser einzigen Woche im Jahr Theater und hohes Theater sehen wollen, so bedarf ich eines Ausdruckes, um sie zusammenzufassen: der Gutsbesitzer aus Oberösterreich, der Ordenspriester aus Maria-Laach oder aus Beuron, der Professor aus Gießen, der Landpfarrer aus dem Lungau oder aus Oberfranken, der Handwerksmeister aus Steyr und der Gerichtsrat aus Gera — sie müssen in eine Einheit zusammengefaßt werden, gegenüber der Familie, die zwischen der Season in London und der Jachtreise nach Norwegen eine Woche Salzburg einschiebt, oder dem amerikanischen Ehepaar, das, aus Paris kommend, über Salzburg, Wien und Konstantinopel für den Herbst nach Kleinasien geht. Beide Gruppen bestehen; aus beiden zusammen, in unzähligen Varietäten besteht unser Publikum.

In ihren unzähligen Individuen sind alle Spielarten der Aufnahmebereitschaft, des Theatersinnes, der Schaulust, der Musikalität verteilt, und die Kurven, mit denen man graphisch diese Empfänglichkeiten darzustellen versuchen könnte, haben nichts zu tun mit den Linien, welche etwa die sozialen oder nationalen Unterschiede darstellen würden; vielmehr würden siche diese Linien in jeder nur denkbaren Weise durchkreuzen. Im Hinblick auf die, welche von Jahr zu Jahr in immer neuen Scharen auf dem Domplatz zusammenströmen, möchte man sagen, die Atmosphäre berühre sich in gewissem Sinn mit der von Oberammergau; in Hinblick auf die, welche um des „Fidelio“, um der Werke Mozarts willen kommen und wiederkommen und unter welchen die Franzosen einen so ernst begeisterten Kern bilden, könnte man von einer Bayreuth verwandten Atmos häre sprechen; Und doch grenzt, so paradox es klingt, die Atmosphäre unserer Zuhörerschaft auch irgendwo an die des Broadway und des Kurfürstendammes, das unbedingt Heutige zu bezeichnen. Aber auch diese großstädtischen Elemente des Salzburger Publikums sind untereinander nichts weniger als homogen. Gerade in bezug auf Theater, da es sich denn um theatralische Veranstaltungen handelt — kommen sie aus Gewöhnungen und Ueber- sättigungen, die unter sich so verschieden als möglich sind. Das heutige Berliner Theater ist ganz auf das Böse und Krasse gestellt, sonderbar mischt sich in ihm die finstere Verfassung, in der jedes Volk nach solchen Aufwühlungen und Schrecknissen eines verlorenen Krieges sich befindet, mit einer der Atmosphäre dieser Stadt eigenen Lust am Grotesken, an zur Schau getragener Kälte und am atemraubenden Tempo. Der Pariser kommt aus der Luft einer etwas ermüdeten Routine auf dem Gebiet des Theaters, und eine große und ernste Neugier nach dem „Andern“ erfüllt ihn, und das Land Beethovens, Wagners und Nietzsches ist für ihn immer die Heimat jenes „Anderen“ und nie vielleicht seit 1830 war diese Neugier oder Begierde nach dem Neuen stärker und ernsthafter. Dem Engländer bietet heute das Theater seiner Hauptstadt eine glänzende Wiedergeburt des Gesellschaftslustspieles aus der Zeit Karls II. Seine heutigen Komödiendichter von Oscar Wilde bis Noel Coward sind nicht weniger geistreich-frivol, ihre Figuren nicht weniger elegant und reizvoll bei äußerster Herzenskälte als die jener berühmten fernen Vorbilder: Congreve, Fargular, Vangrugh. Das Theaterwesen von New York endlich ist voller Evolution. Noch jung genug, um von allen Seiten zu nehmen, jedem fremden Talent, jeder fremden Form eine Heimat zu geben, fängt es heute an, über die bloße Rezeptivität hinauszugehen: es fängt an zu sondern, und in diesem Sondern seine Originalität zu enthüllen und seinen Einfluß auszuüben: den Einfluß seiner weiten Horizonte, seiner Kraft und seines Kraftbewußtseins, seines zu unbekannten Formen und Aspirationen sich umbildenden Puritanertums. Von so vielen Seiten her, aus allen Richtungen der Windrose, auch geistig, kommen sie, denen in Salzburg eine vorübergehende Heimat geschaffen werden soll. Sie durch das Dargebotene zur Einheit, zu einem Publikum zusammenzubinden, scheint fast unmöglich. Und doch ist es durch ein Jahrhundert gelungen, sonst beständen die Festspiele nicht mehr. Hier ist nun die Stadt selbst, die Landschaft von unendlicher Bedeutung. Sie ist weit mehr als Rahmen: der Geist dieser Stadt ist der Regent des ganzen. Er ist so reich in sich, und so besonders, daß es möglich erscheint, jede theatralische Darbietung an ihm zu prüfen, wie an einem verläßlichen Probestein. Aus der Harmonie der einzelnen Darbietungen untereinander und aus ihrer Harmonie mit dem Begriff Salzburg ergibt sich klar, was aufzunehmen, was wegzulassen. Salzburg als Geist genommen, schließt das Festliche ein, aber nicht nur das Heiter-Festliche. Wie wäre sonst der „Jedermann“, wie der „Fidelio“ dort so stark? Ein Schillersches Trauerspiel, Goethes „Iphigenie“ dort so möglich, so da, wie kaum irgendwo auf deutschem Boden? Es schließt das Heutige nicht aus, und wenn es dem scheinbar Gestrigen so viel Lebensraum gewährt, so ist es nur darum, weil es selber übervoll mit dem Lebendigen scheinbar abgelebter Zeiten — das Gestrige als lebend erkennen läßt. Es schließt das Heitere ein, bis zum Burlesken, bis zum Schwankhaften, und Hans Sachs wie Nestroy und auch das Lustige von heute, von Musik umgeben, glanzvoll gespielt, haben in diesen Zyklen ihren berechtigten Platz. Was es ausschließt, wenn man es deutlich aussprechen soll, ist das Finstere ohne Hoffnung und Aufschwung, das innerlich Gewöhnliche, das völlig Weihelose.

Aus „Festspiele in Salzburg“ von Hugo von Hofmannsthal. S. Fischer- Verlag, Frankfurt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung