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Italien zwischen Licht und Schatten

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Die Grenze zwischen der Schweiz und Italien bildet in der Mitte des kleinen Städtchen Chiasso ein schmiedeeisernes Tor. Die wuchtigen Eisenstäbe scheiden zwei Welten. Der Fremde, der das Tor durchschreitet, kommt aus einem Land, das ungehindert durdi Kriege und Revolutionen einen Wohlstand aufbauen konnte, wie er in Europa heute sonst nirgends mehr zu finden ist. Mit wenigen Sdiritten durdimißt er von einem Grenzposten zum anderen die Entfernung von der geborgenen Sicherheit zur unsicheren Labilität. Plötzlidi zerteilt sich das bis zur Grenze gleidimäßig verlaufende Straßenband unter den Gitterstäben, verzweigt sich in viele Kanäle, das Bild wird unruhig und yersdiwommen und die kurz aufeinanderfolgenden widerstreitenden Eindrücke formen sich nur mühsam zu einem Gesamtbilde. Den Neuankömmling umfängt sofort jene ganz bestimmte Atmosphäre, die über ein Volk gebreitet ist, das seit langem nidit die Gelegenheit hatte, das Experimentieren zu verlassen.

Würde der Fremde nidit alsbald die in der Luft liegende, wie ein feiner Nebel über Land und Leute ausgebreitet« Nervosität verspüren, so konnte eine oberflächliche Prüfung den Eindruck eines friedensmäßigen Staatswesens ergeben. Ganz gleich, ob man durch die Geschäftsstraßen Mailands oder Genua« geht oder ob man sidi durch die von eleganten Ausländern und ebenso eleganten Inländern erfüllte Merceria hinter dem Marcusplatz in Venedig durchschlängelt, man ist erstaunt über die unendliche Fülle der Waren, geblendet durch den Reichtum der Sdiaufcnster und verwirrt durch den Tag und Nacht nicht abreißenden Verkehr. Die Menschen unterscheiden sich bei nur flüchtiger Prüfung von der heutzutage in den meisten europäischen Staaten sichtbar werdenden Armut. Dieses Bild entsteht aber nicht nur in den großen Städten, es gilt ebenso für die kleineren Orte und Märkte. Aber der offen zur Sdiau gestellte Lu,xus und Überfluß in allem und jedem ist nur die leuchtende Farbe eines Gemäldes, das viele nur mühsam zu verbergende Risse aufweist. Schwer hat das Land unter den Kämpfen gehtten und nicht nur die Industriezentren. Entlang der Hauptkampflinien wurden auch die armseligen Bauernhäuser und Hütten dem Boden glcidigemacht, die Straßen aufgerissen, die Brücken Zerstört. Vit ungeheurem Fleiß und romanischer Phantasie ist der Italiener“* darangegangen, die Hauptverkehrsadern wiederherzustellen. In den Städten wachsen über den Bombenkratern die neuen Häuser empor. Der Wille zum Wiederaufbau meldet sich kraftig an.

Eine Umschichtung des Verhältnisses des Staatsbürgers zu den politischen Parteien hat sich vollzogen. Der Italiener ist parteimüde und teilt es jedem auch bereitwillig mit. Nur «in geringer Teil wurde von den großen Parteien im aktiv arbeitenden Parteiapparat erfaßt. Die entscheidenden Auseinandersetzungen werden auf das Gebiet jener wirtschaftlichen und sozialen Fragen getragen, die für jeden Staatsbürger lebenswichtig sind. Ein klares Beispiel dafür ist die Taktik der straff organisierten kommunistischen Partei. Sie hat sich eine durchgebildete ungefähr 50.000 Mann starke Parteigarde geschaffen, und es gelang ihr, durch Besetzung der einflußreichsten ^Stellen in der über fünf Millionen Mitglieder zählenden italienischen Gewerkschaftsorganisation ein Instrument in die Hand zu bekommen, das schon nahezu als Staat im Staat bezeichnet werden kann. Es ist der Rammbock zur Durchsetzung politischer Forderungen, zu Streiks, zur Mobilisierung der Straße und wird auch jetzt wieder zum Hauptangciff auf die Regierung angesetzt. Diese Macht ist die Stärke der extremen Linken, obwohl ein Großteil der Arbeiter und Bauern dem wirklidien Wesen des Kommunismus weit entfernt ist. Die Wirtschaftsdemagogie im Dienste der Parteipolitik treibt das Land von Krise zu Krise. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, daß ein Großteil der Löhne bereits unter dem Existenzminimum liegt. Bis zum Ende der faschistischen Ära wirkte, verstärkt durch die Kriegswirtschaft, eine staatlich gelenkte Inflation preisregelnd. Durch Aufhebung aller Einschränkungen und Aufgabe der Preisbildung durch die staatlichen Stellen war das Land in einen wahren Hexensabbath inflationistischen Kapitalismus gestürzt worden. Betrug der Import im Jahre 1939 859 Millionen Lire und der Export 902 Millionen Lire, so ergaben die gleichen Zahlen für die Mitte des heurigen Jahres bei verminderter Warenmenge 22.565 Millionen Lire, beziehungsweise 12.748 Millionen Lire. In Mailand allein werden um den Domplatz und in den Galerien Vit-torio Emanuele täglich 600 Millionen Lire in ausländischen Valuten umgesetzt. Diese inflationistische Konjunktur hat dazu geführt, daß die soziale Kluft stark verbreitert wurde. Der Lohnempfänger kann mit den ständig ansteigenden Preisen nicht mehr mit. Der Durcbschnittsgehalt eines Arbeiters oder Angestellten beträgt heute 10.000 bis 30.000 Lire im Monat. Ein Paar Schuhe kostet aber 5000 bis 11.000 Lire, ein Anzug zwischen 8000 bis 10.000 Lire, ein Essen in einem Gasthof 600 bis 1000. Verhältnismäßig billig sind nur die Mieten geblieben. Zu gleicher Zeit bringen zum Beispiel die Eiatwerke Personenwagen zum Preis von Vi bis 1'4 Millionen Lire auf den Markt, und trotzdem sie auf vollen Touren arbeiten, können sie den zahlreichen Bestellungen nicht nachkommen. Die Schleichhändler und Spekulanten sind in Flor. Sie können sich die schönen Fiatwagen leisten. Nicht verwunderlich, daß viele durch diese wirtschaftlichen Gegensätze dem Radikalismus in die Arme getrieben werden.

Diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die seit Kriegsende ständig »unahmen, waren auch der Grued, daß sieben Ministerien in den letzten vier Jahren zu Fall gebracht wurden. Das achte, das der Chef der christlich-demokratischen Partei AIcide de Gasperi unter' Ausschluß der Kommunisten und Radikalsozialisten vor vier Monaten aus Mitgliedern seiner Partei und unpolitischen Fachkräften bildete, läuft ständig in Gefahr dem Beispiel der Vorgänger zu folgen. Der letzte Angriff wurde abgeschlagen. Werden jetzt die Kommunisten bereit sein, zur offenen Gewalt zu schreiten? In seiner letzten Rede in Modena hatte Togliatti die Regierung de Gaspcris als „Sklave der Schieber und Kapitalisten“ bezeichnet und gedroht: „Wenn uns die Regierung nicht einen eindeutigen Beweis ihrer demokratischen Gesinnung erbringen wird, werden wir kämpfen mSssen!“ Er werde 30.000 bewaffnete Partisanen aufrufen. Ohne Zweifel hat in den letzten Wochen das Wetterleuchten über dem Apennin Gewitterstärke angenommen. Noch ist keine Sonne zwischen dem schweren Gewölk zu sehen. Neben der Dollarkrise — Italien läuft Gefahr bis Anfang 1948 bar jeder Devisen dazustehen — ist es hauptsächlich der Rohstoffmangel, der die eben erst in Schwung gebrachte Industrie zu hemmen droht. Kohle, Treibstoff und Stähl stehen an erster Stelle, da dafür kein Ersatz gefunden werden kann. Entscheidend dürfte aber die in London tagende Konferenz sein, die sich mit dem Schicksal der italienischen Kolonien befaßt, und somit die politische Zukunft des Landes tiefgehend beeinflußt.

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