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LEBENSWEG UND ERDENGANG

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Vermag es in diesem Jahrhundert ein aufrichtiger schöpferischer Mensch, vermag es ein bildender Künstler, seinen Lebensgang, sein Erdendasein in Übereinstimmung zu wissen mit kosmischem, himmlischem Geschehen? Tausende, so glauben wir, rufen als Antwort: „Nein!“ Und selbst die Klügsten meinen: „Das konnte es noch in der Epoche der paracel- sischen Mystik geben, noch bei Rosenkreuzern, Alchimisten, Hermetikern. Aber heute? In der Periode der Atomspaltung? Der Mondraketenfahrt?“

Doch jener Künstler, der von der „Verquickung seines Erdengangs mit dem Himmelsgang“ eindringlich Zeugnis ablegt, der Maler und Graphiker Ernst Fuchs, in dessen neuem, imposantem Bildband sich diese bekennenden Worte finden: er lächelt, wenn man sie ihm als „Rückständigkeit“ ankreiden will. Ihm imponieren nicht allzu sehr jene Überexaktheiten, für die in einer kostspieligen Währung bezahlt werden muß, die „menschlicher Substanzverlust“ heißt. Ein Linolschnitt in diesem neuen Buch, betitelt „Atomforscher“, zeigt einen dieser Überexaktheit dienenden Typ: und dessen Darstellung ist alles andere eher als schmeichelhaft. Umgekehrt gibt es andere Abbilder, gewidmet jenen Gestalten, die an eine wahre Übereinstimmung zwischen der makroskopischen Schöpfung und dem Geschöpf ehrlich glauben: und diese Abbilder bezeugen Ehrfurcht und Anerkennung. Ein grundlegender Unterschied der Bewertung! Er regt zu der Frage an: „Enthält das neue Werk von Fuchs positives Material zugunsten der — für die Menschheit so oft faszinierend gewesenen — Behauptung, es verkörpere der Mensch, als Mikrokosmos, ein wahres Abbild der universalen Gesamtschöpfung, des Makrokosmos?

Die Frage gilt dem neuen im Verlag für Jugend und Volk erschienenen Buch von Helmut Weis: Ernst Fuchs — Das graphische Werk. Dieses ist jta auch für nichtphilosophische, für eher an äußeren Merkmalen orientierte Betrachtung sehr aktuell und bedeutsam. Stellt es doch einen Einschnitt dar.

Vor 1967 war die Graphik von Fuchs, der er selbst innerhalb seines Gesamtschaffens eine zentrale Bedeutung zuerkennt, verstreut gewesen; nun existiert sie zusammengefaßt: gerafft! Präsent ist sie nunmehr, und darin sollte man mehr sehen als irgendeines der ungezählten Daten der Kunstgeschichte. Was etwa mag sich darin spiegeln, daß — früher — dieses graphische Werk eines der größten bildenden Künstler Österreichs, besonders während der fünfziger Jahre, noch nicht als eine Einheit vorhanden war? Wohl dies: Damals mußte sich das noch unfertige, noch undeutliche neue Kulturbewußtsein erst mühsam zurücktasten aus den blutigen Nachwehen des zweiten Weltkrieges. Und nur eine andere Auswirkung des gleichen Undeutlich- und Unfertigseins war es, daß Ernst Fuchs damals — davon berichtet er eindringlich im Textteil, den er zu diesem Band schrieb — in eine furchtbare Situation materieller Not hineingestellt war. So lange noch ein ausgeprägtes Bewußtsein von der tatsächlichen Leistung eines bildenden Künstlers fehlt, schützt noch nichts sein Werk, noch nichts sein äußeres Leben. Was mag sich in der Umkehr und Überwindung dieser Ausfallserscheinung spiegeln —: darin, daß jetzt die Fuchs-Graphik als ein gesammeltes Konzentrat greifbar wurde? Vielleicht: ein Zuwachs an Bewußtsein, gewonnen von relativ größeren Menschengruppen; an Bewußtsein, das nun schon um einige Grade wacher, auch genauer weiß, was es im Hinblick auf seine Kulturzukunft will; auszudehnen vermochte sich der Bereich der Aufnahmefähigkeit für die Botschaft von Ernst Fuchs.

Daß diese Botschaft, die das neue Werk vorlegt — in vielen hunderten kraftvollen Abbildern und in beherzigenswertester geschriebener Selbstbesinnung —, aufsteigend bis zur „Verquickung“ von ihres Autors „Erdengang mit dem Himmelsgang“, nichts Geringeres vernehmen läßt als neue Zueinanderordnung von Weltall und Mensch, und daß sie dabei nicht achtet der rücksichtslosen Machtansprüche und Monopolwünsche aller unserer szientistisch-technischen Fetische — das hebt sie hoch darüber hinaus, nichts weiter zu sein als bloß ein Tatbestand der Kunsthistorie. Eindeutig ist ihre Funktion: die zum Ende dieses Dezenniums trotz allem anwachsende Bewußtseinsanreicherung jabzuspiegeln! Ist also ihr Gültiger-geworden-Sein ein Signal eines allgemeinen Geistesfortschrittes? Das wohl nicht: dem widerspräche die dialektische Natur des Geschichtsprozesses. Der so oft unermeßlich tragischen, dialektischen Struktur des Werdens entrichtet auch die Botschaft im „Graphischen Werk“ ihren Tribut.

Die geistige Kraft, von der sie angetrieben wird, ist elastisch genug, einem Ur-Gegensatz gerecht zu werden: Er klafft zwischen wachem Wissen und tiefverborgener Unbewußtheit. Gerade dieser Weg, auf dem Steigerung menschlicher Bewußtseinsschärfe, besseres Sich-selbst-deutlich- Werden des Menschen erreichbar wäre: — gerade dieser Weg muß, davon geht Ernst Fuchs aus, über den Ort seines Gegenpols führen, über den Wissens-Gegenpol: also über die Präsentierung unbewußter Inhalte, ja, oft auch morbider Traumwelten.

Die Rätsel des Traumes! In ihrer präsentierenden Darbringung entrichtet die vom Künstler mitgeteilte Botschaft der überaus strengen „Gottheit“ (sit venia verbo, kein anderer Ausdruck ist präsent!), die sich „Geschichtsdialektik“ nennt, die unvermeidbare Tributzahlung. Des Traums viele Rätsel! Wird nicht noch immer ihr Dasein unterbewertet, bagatellisiert? Und äußert sich nicht etwa in der Bagatelli- sierung eine Hemmung, eine Abwehr, die zurückschaudert vor ihren eigenen Untergründen und Hintergründen? Und verdächtigt nicht diese Hemmung, diese Abwehr mit besonderer Vorliebe jene Gestalten der Traumwelt, die eindeutig hinweisen auf des Menschen Zweigeschlechtigkeit? Verdächtigt die Hemmung gerade diese Gestalten nicht um so heftiger, je eindeutiger ihr Fingerzeig hinzuweisen scheint auf das Geschlechtliche? Wie bedenklich bleibt jeder Versuch, solche Traumgestalten, indem man ihnen andere Auslegungen unterschiebt, zu „de-sexualisieren“! Geraten dadurch doch Hemmung und Abwehr in die Gefahrenzone hypokritischer Schönfärberei! Eindringlich aber, unbedingt, uneingeschränkt bejaht Fuchs als graphischer Künstler die Zweigeschlechtigkeit, mitsamt allen ihren Konsequenzen — seelischen wie sozialen; einschließlich alles dessen ist, davon bleibt er stets durchdrungen, diese Zweigeschlechtigkeit gottgewollt; man braucht sich ihrer nicht zu schämen. Vergebens feindet die mit der Abwehrgebärde ausgestattete, sich gegenüber dem Traumreich abkapselnde Bewußtheit, indem sie sich ihrer irdischen Wurzel schämt, die direktere Symbolsprache unserer Geträumtheiten an: sie vermag sie nicht zum Schweigen zu bringen. Deshalb zeigen sich so oft die in diesem Graphischen Werk abgebildeten Frauen und Männer in ihrer kreatürlichsten Nacktheit. Allem entrüsteten Puritanertum, Pharisäertum, allem leibfeindlichen Platonismus zum Trotz können sie nicht umhin, Kinder des Adam und der Eva, bekleidet mit menschlichem Fleisch zu bleiben. So zeigt das Titelblatt, die Seite des Buchumschlages, die Szene der Einkleidung der Esther. Persiens Großkönig, der Sassanide Ahasverus, will sich mit ihr vermählen! Betörend ist ihre Wirkung —: und nicht nur die ihrer Persönlichkeit, sondern auch die ihres körperlichen Reizes — auf den König. Dieser Wirkung wird es zu verdanken sein, daß diese Esther die Rettung des jüdischen Volkes, dem sie angehört, und dem eben unter dieses Ahasverus Herrschaft die physische Vernichtung angedroht worden war (auch schon vor 2300 Jahren also —!) vollbringen können wird! Das Titelblattabbild „Die Einkleidung der Esther im Jungfrauenhaus“, eine der wichtigsten Graphiken aus dem Esther-Zyklus dieses Buches, verlöre seinen Sinn, wenn es absähe von Esthers Kreatürlich- keit, von der ausdrücklichen Schilderung ihrer spezifisch weiblichen Schönheit und Kraft.

Um genau dasselbe Problem geht es überall, wo Fuchs, wie er dies auch hier gelegentlich in seinem Textteil tut, Gegnerschaft wider nur-abstrakte oder faschistische bildende Künstler bekennt — wenn auch hier, im „Graphischen Werk“, nur am Rand. In allen diesen Polemiken verwendet er das wohl kaum zu widerlegende Argument: niemals waren die gänzlich „entkreatürlichten“ Werke der Abstrakten geschichtsbildend — und niemals vermögen sie geschichtsbildend zu werden! Mag man die Menschheitsgeschichte beurteilen, wie immer man will: Menschenwesen aus Fleisch und Blut waren ihre Akteure; keine „faschistisch“ aufgelöste Königin Esther, nur eine sinnenwahrnehmbare, konkrete Esther hat die Rettung ihrer Volksgenossen vollbracht als ihre persönliche, geschichtliche Tat! Allem, was wirklich Schöpfung ist, muß es wesentlich sein, nicht zu stagnieren, sondern in einer Bewegung zu sein: sei es nun eine Strömung des Werdens oder des Ent-Werdens. Aus dieser Einsicht heraus hat Fuchs die meisten der in seinem Graphischen Werk auftretenden Gestalten an irgendeinen raumzeitlichen Fixpunkt des Weltverlaufs, des Entwicklungsprozesses angeschlossen: wohl keine seiner Figuren agiert im völlig Leeren. Sogar das, wie man sagen möchte, „uneigentliche“ Tier, mit dem sich Fuchs etwa so, wie Indianerstämme es mit ihren Totemtieren taten, irgendwie identifiziert, sogar dieses Tier, das Einhorn: es verharrt bei Fuchs nicht in Bewegungslosigkeit, es erfüllt sein Schicksal im Durchlaufen verschiedener Stationen: Versuchung — Passion — Triumph — Auferstehung. Mag das Einhorn weiter als Phantasie-Tier gelten: zumindest ist es kein ins Abstrakte aufgelöstes Tier.

Die Botschaft von Ernst Fuchs, jetzt endlich deutlicher werdend, diese Botschaft, die gerade — in dem Unbewußten eher Angenäherten — das Instrument der Herausmeißelung unserer Bewußter-Werdung schärfen will — sie kann sich nicht begnügen mit dem, was der Einzelmensch träumt — worin so unendlich vieles Zufällige steckt, das wieder in Leere, in Stagnation absinken wird. Vieles, was wir als Individuen träumen, läßt außer jener Bejahung des Kreatürlichen, die im Symbolbilden für Geschlechtliches enthalten, und die völlig ehrlich ist, alle anderen Werte vermissen. Erschütternd wird die Leistung des Unbewußten erst dort, wo es den „Prototypes“ formt: wo es Modelle, Typen gleichsam vorausträumt, nach denen später gelebt werden, nach deren Bild Kult und Kultur geformt sein werden. Dies vollzog sich mit unerhörter Eindringlichkeit im alttestament- lichen Israel. Daraus erklärt sich dessen große Bedeutung für die Graphik von Fuchs. Auf einer frühen Stufe wird der Traum, wenn nicht religionsbildend, so doch bleibende Überlieferung schaffend. Das gilt vor allem für die von Fuchs mit erstaunlicher Überzeugungskraft gestaltete — Geschichte des Richters Samson. Fast 1000 Jahre vor Esther (deren Wirken historisch erhellter anmutet als das seine — soll dieser Held, im Zwielicht der Vorgeschichte, gewaltige Taten getan, furchtbare Leiden erlitten haben: von Delila, der Frau, die er liebte, wurde er seiner Haare, die seine Kampfkraft enthielten, heimlich beraubt; er wurde geblendet. Dieser Samson verkörpert gleichsam einen großartigen Traum: einen, den ein junges Volk als einheitliche Person träumte, und den es für wert befand, in seiner religiösen Überlieferung Aufnahme zu finden! Dies hat der Verfasser der Einführung zum Graphischen Werk, Gustav Renė Hocke, klar erkannt, als er es in die Worte faßte:

„Man kann von Träumen gleichsam in religiöser Aktion sprechen, um die ganz und gar religiös-artistische Kunst von Fuchs von der bloß evokativ realistisch-artistischen Kunst zu unterscheiden."

Ein außerordentlicher Wahrheitsgehalt ist in dieser Formulierung befaßt! „Evozieren“ heißt: so beschwören, daß Beschworenes sinnenwahrnehmbar für den Beschwörer wird. Gewiß, dies ist eine Aufgabe und ein Problem der „realistischen Artistik!“ Kann jedoch das „evozierte“ Bild eines Traumes auch „agieren“? Verharrt es nicht bei vielen Surrea- listen-Malern in völliger Statik?! Doch selbst dann, wenn das „evozierte“ Traumbild irgendeiner Aktion fähig ist, bedeutet dies noch nicht, daß es „religiös“ agiert! Zustimmen, kann, ja muß man der Hockeschen Definition, die letztlich aüssägt, es sei allein dem Künstler Fuchs Vorbehalten, „Träume in religiöser Aktion“ zu gestalten. Außerhalb seines Schaffens bleibt auch die noch so virtuose „Artistik“ der Surrealisten auf der Stufe der „Evokation“ stehen.

Ausgeklammert, abgeschoben in sterile Sperrbezirke der Historie und der Archäologie, waren, vor Fuchs, die mächtigen, persönlichen Gestalten des Vorzeit-Traumes: Esther und Ahasverus, Samson und Delila, Hiob und Ezechiel, — ausgestoßen sie alle, die nun in diesem Graphischen Werk auferstehen und vor uns hintreten. Sie sind ein Teil meiner selbst! bekennt Ernst Fuchs. Sein eigenes Künstlerleben ist das Leben des Einhorns! Ewige Gültigkeit fordert er für die aus großen Wahr- und Urträumen, etwa der Israeliten, entsprungenen religiösen Inhalte. So verlebendigen sich Samson und Delila. Samsons „religiöse Aktion“ (in Kampftaten und im Sehertum vollbracht) macht ihn etwa zu dem, was in der hellenischen Kultur „Heros", Halbgott hieß. Doch im Unterschied zu hellenischen Heroen überwiegen bei Samson die typisch menschlichen Züge: zunächst absolut. Samson beträgt sich, spricht und handelt wie ein zwar wilder und starker, aber doch die Schranken seiner Gattung nicht überschreitender Mensch. Doch gerade dies läßt ihn in einem viel stärkeren Maß, als es bei griechischen Heroen der Fall war, als den Mikrokosmos erscheinen, der, in verkürzter, diminuierter Ausführung, das riesenhafte große Weltall ist. Die Frage, mit der wir hier begannen: ob dieses Graphische Werk etwas Bejahendes zum Problem, ob der Mensch ein Abbild und Siegel des Markokosmos sein könne, liefert Ernst Fuchs selbst, wenn er, in vollendeter Dichtersprache, Samson den Einzelnen zum weltweiten Allmenschen erstreckt (und so unmerklich, so kaum-bewußt, so traumnahe — „religiös agierend“ geschieht dies, daß der „Held und Richter Israels“ auf einmal als verkörperter Makrokosmos vor uns steht): „Die Sonne stand im Zenit, Samson, der Sieger, neigte sich dem Untergang zu. Der Horizont, die Pforte der Nacht, färbte sich und spielte mit dem rotgoldenen, lichten Gelock seines Haares, sog es ein — schon schimmerte matt die Sichel des Dagon am dunkel werdenden Himmel im Norden . . . Noch aber ist er nicht in den Händen des Todes, hängt aus die Tore der Nacht (=Gaza), stellt sie gegenüber der Stadt auf einen Berg und steigt am Horizont, ehe Gaza erwacht, empor, strahlender als je zuvor. Erst durch die Begegnung mit Delila, der schönsten Tochter der Nacht, durch Lilith selbst, die Nymphe der Nymphen, wird das Gold seiner geweihten Locken dem Dagon zur Beute… wird auch Samson, im Schoße Delilas schlafend, seine strahlenden Haare (sein Horn) verlieren und die Beute der Nacht werden, sein Augenlicht verlieren. Vor dem Hause des Dagon offenbart er Delila sein Geheimnis, und das Haus neigt sich über sein Haupt. — Mit Samsons Blendung ist die Sonne im Westen versunken, vor den erblindeten Augen tun sich die Bilder des Totenreiches auf, sein Schädel ist kahlgeschoren, und die Hand Gottes weicht von ihm. Dort, wo die Lilithgeister schweben, an der Grenze zwischen Schlaf und Tod, trifft ihn der Stoß seiner Feinde… in der Zerstörung des Dagon-Tempels, dieses Tempels des Todes, verläuft die Faltung des Doppelbildes genau durch die Mitte des Leibes von Samson."

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