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Über den religiösen Film

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„Ich las in einem Buche von Wells die Geschichte der Wesen eines anderen Sterns, die von einer selbstherrlichen Macht wie Leibeigene gebraucht und in Fühllosigkeit, in eine schlaffe und zugleich glückliche Betäubung gebracht werden, wenn sie dieser ihrer Glieder nicht mehr bedarf. So ungefähr ist es mit dem Film.“ So schreibt „La pauvre fille" in Maxence van der Meerschs Roman „Le peche du monde“. Warum nur der Mensch es liebt, derart seiner selbst entsetzt zu werden?! Als ob die menschliche Seele die Einsamkeit, diese signatura hominis, heute schlechter ertrüge als zu anderen Zeiten, flieht der Mensch aus dem eigenen Leben in irgendeines. Was dem mittelalterlichen Heiligen die Ekstase war, das ist dem technisierten Menschen in seiner Verseeligung der Film. Die Flucht nach u n t e n : in jene Verbrechen und Welten, die der Mensch sich aus irgendeiner Hemmung nicht selbst gestattet; darum muß ein Gangster auf der Leinwand auftauchen, muß jene Schlechtigkeiten begehen, die wir nicht begehen können oder begehen wollen, die aber trotzdem in uns schlummern. Da der menschliche Kurzschluß sich sympathisierend mit der jeweiligen Hauptperson eines Films gleichsetzt, siegt nicht der Detektiv, siegt nicht die Gerechtigkeit, sondern letztlich der Verbrecher. Gleicherweise liebt der Filmbesucher die Flucht nach außen: in jene vergangenen Zeiten, die nicht mehr zurückzuholen sind; in die Gestalten historischer und biographischer Filme, seien sie echt oder leidlich gut erfunden und gespielt. Oder er flieht in eine utopische Zukunft; nur weit genug weg vom gegenwärtigen Augenblick. Die Trümmer-, Aufbau-, Kriegs-, Heimkehrer- oder Nazifilme gleiten wie eine Wochenschau aus vergangenen Tagen vorüber. Nach innen kann der Mensch durch den Film nicht fliehen, denn diese Richtung ist der. darstellenden Kunst versperrt, es sei denn, daß die Märchenfilme uns zurück ins vergangene Kinderland und damit ins Innenland unserer besseren Zukunft verlocken.

Aber es ist sehr merkwürdig, wie sehr sich heute Filmgegenstände beliebt machen, die — um eine Richtung anzugeben — uns nach oben fliehen lassen: die religiösen Filme. Ja, sie sind ebenso offene Tore aus dem Eigenen und Jetzt wie die anderen Filme: das Leben eines Heiligen, der Mut eines Missionars, die Stille und Ordnung einer klösterlichen Gemeinde, das Milieu eines Pfarrhofes, die Leiden eines Seelsorgers sind ebenso Utopia und Vergangenheit und — Wunsch wie die anderen Filme. Ein verschüttetes Etwas, ein verschlossenes Ich wird durch jeden Film befreit; ein Filmstar ist immer ein Ersatz-Ich, das jenen Teil meines Lebens lebt, den ich selbst zu leben nicht imstande bin. So auch der Heilige, der Priester, der Missionar, der Mönch und die Klosterfrau.

Wir haben in Wien nun mehrere solcher Filme religiösen Inhalts gesehen, zuletzt „Das Lied von Bernadette“; und wir warten auf den französischen Film „Monsieur Vincent“, der uns das Leben des heiligen Vincenz von Paul zeigen wird. Für uns hat es eigentlidi mit dem Film „Der Weg ins Glück“ begonnen, daß wir Geschmack, ja überhaupt Aufmerksamkeit für solche Filmstreifen gewannen. Die Filmproduktion hatte es gewagt, aber unter der Fanfare des Bing Crosby: er war bereits bekannt, beliebt, umschwärmt vom Publikum der leichten Filme; seine Stimme hatte schon viele Hörer beglückt und begeistert; mit Bing Crosby konnte man es wagen, einen Priester auf die Leinwand zu bringen — sein Name garantierte schon einen ansehnlichen Erfolg. Und der Wurf gelang so gut, daß sogar ein schlechter Film besucht wurde: „Die Glocken von Sankt Marien“; allerdings hatte man dem berühmten Sänger eine noch berühmtere Mitspielerin gegeben: Ingrid Bergmann. Und Ingrid Bergmann konnte sogar als Nonne auftreten. Wir haben uns dann auch schwierigere Themen vorspielen lassen: „Das Wort?“ nach dem Theaterstück von Kaj Munk; „Die Schlüssel des Himmelreiches“ nach dem Roman von A. J. Cronin; wir werden den Mundus- film „Das Siegel Gottes“ sehen, der über das Beichtgeheimnis handelt. Wir haben sogar einen Christusfilm „König der Könige“ aus dem Jahre 1927 wiedergeholt und mit dem „Prozeß" 1947 die Geschichte um einen angeblichen Ritualmord bewundert.

Das Publikum sieht sich diese Filme an. Daran sind sicher nicht die Besitzer der Filmhäuser schuld, denn diese müssen sich ja nach den Besuchern richten, deren Geschmack momentan eben diese religiösen Filme entsprechen. Wir sollten uns aber hüten, einen Rückschluß auf den Stand der Religiosität in Wien und in der Welt zu machen. Der religiöse Inhalt im Film gefällt zunächst auch; für viele als etwas Ganz-Fremdes; für viele als etwas Historisches; für viele auch als verpaßtes eigenes Leben. Der gläubige Mensch — wenn er ihn nicht aus irgendeinem Snobismus gesehen habep „muß“ — wird einen solchen Film wie ein Erbauungsbuch aufnehmen.

Den Schauspieler reizt eine Rolle im Priester- oder Mönchsgewand; einen Heiligen darzustellen ist für ihn eine neue Möglichkeit, die darstellende Kraft in eine ungewohnte Gestalt zu bringen. Von Seiten des Schauspielers ist also die geringste Schwierigkeit; Spiel und Gage sind hier ebenso sicher und bedeutsam wie in anderen Filmgegenständen. Bei der Darstellerin der Bernadette im „Lied der Bernadette", Jennifer Jones, zeigt sich allerdings ein neues Phänomen: daß es so etwas wie eine filmische Jungfräulichkeit gibt. Eine Heilige derart echt und naiv zu spielen, gelingt wohl nur dort, wo keinerlei filmische Vergangenheit aus anderen Rollen mitspielt; obendrein gehört eine geniale Filmbegabung dazu. Den Schauspieler als Künstler kann es nur darauf ankommen, den religiösen Inhalt ebenso zu „können“, zu gestalten, wie jeden anderen Inhalt auch. Es ist sogar von besonderem Reiz, Haltung, Lebensform und Milieu solcher Berufe zu studieren und sich anzueignen, die das religiöse Thema jeweils vorschreibt.

Für den Filmproduzenten ist das Thema des religiösen Films sicher noch nicht erschöpft. Es gibt noch genug Heiligenbiographien, Romane, Novellen und Dramen, die verfilmt werden könnten. Auch neue Möglichkeiten stehen offen, die bisher noch nicht angegangen wurden. So wäre es eine lohnende Arbeit, eine filmische Antwort zu geben auf die Frage: „Wie würde der heilige Adlibitum heute handeln?“ Das heißt, man könnte die Biographie mancher Heiliger in die heutige Zeit „übersetzen“, zum Beispiel „Thomas Morus oder der Politiker“: hier müßte die Lebensgeschichte des englischen Lordkanzlers aus der Zeit Heinrichs VIII. in unsere Tage versetzt werden, um den christlichen Politiker schlechthin und für uns zu zeigen. Oder „Franz von Assisi oder die katholische Aktion“: was zu seiner Zeit der heilige Franziskus mit der Armenbewegung im Sinne der biblischen und kirchlichen Observanz durch seine Persönlichkeit stiftete, ist gerade das, was die „katholische Aktion" heute leisten müßte. „Benedikt Joseph Labre oder die wandernde Kirche“, „Jeanne d’Arc oder der Krieg“, „Savonarola oder die Gewissensfreiheit“ wären ebensolche Themen. Dies würde an den Drehbuchschreiber und Regisseur ganz neue Anforderungen stellen: Geschichte der Vergangenheit zur Gegenwartsgeschichte werden zu lassen.

Es gibt Fragen, die nie an die richtige Adresse gerichtet werden; es gibt Aussagen über Lebensprobleme, die von falschen Propheten gemacht werden. Dem könnte durch den Film sogar für eine größere Öffentlichkeit abgeholfen werden. So müßte etwa in Schmal- oder Kurzfilmen zu irgendwelchen religiösen, seelsorglichen, pädagogischen Themen gezeigt werden: 1. „so hättest du…“, 2. „so hast du…“, 3. „so kannst du jetzt noch …“ Ob es sich dabei um Taten oder Worte oder Haltungen handelt, ist ganz gleichgültig. Sicher ist, daß die bildhaft geschaute Antwort mehr Eindruck macht als die gehörte, falls man sie überhaupt hört.

Solcher Möglichkeiten für den Filmproduzenten gibt es noch viele. Aber dieser wird sehr vorsichtig sein, da er nie weiß, wann die Konjunktur der religiösen Filme zu Ende sein wird. Er macht sich ebensowenig vor wie der Seelsorger: der Filmproduzent ist skeptisch gegenüber der Dauer dieses Geschäftszweiges; der Seelsorger ist es gegenüber der apostolischen Wirkung des Films. Für den Produzenten wird hier augenblicklich eine Geld- und künstlerische Frage durch das Publikum entschieden; für den Seelsorger bedeutet der religiöse Film bestenfalls eine momentan gängige Hilfe bei seiner Arbeit, doch er weiß auch, daß die Filmpsychologie ihre eigenen Gesetze bereits erstellt hat, die mehr oder weniger den Gesetzen religiöser Psychologie und Pädagogik widersprechen.

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