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MacMillan, der Bedrängte

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Die konservative Regierung hat bei den letzten Nachwahlen Verluste erlitten, wie man sie sich kaum beunruhigender vorstellen kann. Der auffälligste Rückschlag trat in Leamington, in der Grafschaft Warwickshire, Edens früherem Wahlkreis, ein. Hier mag es sich um einen Sonderfall handeln. Sir Anthony hat in mehr als dreißig Jahren ein sehr enges Verhältnis zu seiner Wählerschaft hergestellt, als er schließlich stürzte, mag für manche seiner Anhänger eine Welt zusammengebrochen sein. Ueber die Trümmer solcher Welten schreitet man nicht zur Urne, das erübrigt sich. Aber auch wenn man aus den weniger katastrophalen anderen Resultaten den „trend” errechnet und ihn allgemeinen Wahlen zugrunde legt, so ergibt sich eine ganz stattliche Mehrheit für einen Premierminister Seiner Majestät, der Gaitskell heißen würde und der als Außenminister wahrscheinlich Aneurin Bevan der Welt vorstellen müßte.

‘Was ist geschehen? Hat das mißglückte Suez-Abenteuer die Stimmung so radikal verändert? Oder sind es mehr interne Gründe, die den Umschwung herbeiführten? Oder sind die beiden Motive untrennbar miteinander verwoben?

Wenn man sich mit diesen Fragen befaßt, muß man zunächst die Umstände einer Analyse unterziehen, die Eden, nachdem er 1955 Churchills Nachfolger geworden war, seinen großen Wahlsieg erringen ließen. Es war in unserer Zeit die klassische Uebernahmssituation durch eine konservative Regierung: Die Sozialisten hatten das Land mit Reformen aller Art gesättigt. Diese Reformen wurden zwar von einer bedeu tenden Mehrheit gebilligt, gleichzeitig war aber das Gefühl weitverbreitet, daß nun eine Phase der Konsolidierung folgen müsse, daß man die Errungenschaften nur dann werde halten können, wenn das Tempo gebremst würde. Für diese Aufgabe schienen die Konservativen hervorragend geeignet, sie hatten es obendrein verstanden, sich dem Land als eminent praktische Männer vorzustellen, die mit den gestellten Aufgaben sehr viel besser würden fertig werden als die sozialistischen Doktrinäre und Ideologen — und Doktrinäre und Ideologen sind in England tatsächlich nicht beliebt. Eden hat diesen Auftrag des Wählers recht gut begriffen. Er handelte so, als ob er ihn auch ausführen könnte, und begriff zu spät, daß das gar nicht der Fall war. Dies führte zur ersten Vertrauenskrise zwischen ihm und der Toryr Elite. Der riesige Oberbau des Wohlfahrtsstaates war für das Fundament der englischen Wirtschaft in der Tat zu schwer, die Produktion war zwar im Ansteigen begriffen, aber sie stieg bei weitem nicht schnell genug an, um die ausgestellte Anweisung zu decken, dazu erwies es sich angesichts der Vollbeschäftigung als unmöglich, Arbeitskräfte von den sich dahinschleppenden, notleidenden Betrieben r.uf jene zu verschieben, dier. echte Profite erzielten und die für das Land notwendige Devisen einbrachten. Als Eden sich schließlich zum Handeln entschloß und seinem tatkräftigsten Mann, MacMillan, das Schatzkanzleramt übertrug, war sehr viel kostbare Zeit vergangen. Man entschloß sich, zunächst einmal die Mittel der klassischen Deflationspolitik in Anwendung zu bringen, die um die unbeliebte „credit squeeze” bereichert wurden, und da man sich kaum dem Labour-Weg des Dirigismus anvertrauen konnte, war es wohl auch das einzige, was sich tun ließ. Inzwischen wurden die Sorgen der Regierung für eine Weile auf außenpolitische Fragen abgelenkt; es kam zur Intervention in Aegypten und zum Rückzug aus den eroberten Positionen. Wie man weiß, war das Land in der Frage der moralischen Rechtfertigung bewaffneten Eingreifens geteilt. Gallup-Untersuchun- gen haben allerdings gezeigt, daß Eden in den entscheidenden Tagen und Wochen eine Mehrr heit für sich buchen konnte. Als sich aber die Wolken verzogen hatten, stellte sich für den Durchschnittsengländer eine Frage dienizwar mit Völkerrechtlichem Ethos;.wenigJzmtun hat, ihn aber trotzdem recht eingehend beschäftigt. Waren die Konservativen wirklich so eminent praktische Männer, kannten sie sich in internationalen Fragen in der Tat so vortrefflich aus, wie man bei der Wahlkampagne immer wieder gehört hatte? Wäre es viel schlimmer ausgefallen, wenn Labour, der man „die Außenpolitik nicht anvertrauen dürfe”, am Ruder gewesen wäre?

MacMillan hat also eine wenig beneidenswerte Erbschaft angetreten. Die Deflationspolitik, der er sich anvertraut hat, kann niemals rasche Resultate zeitigen, sie führt zunächst meist zu einer Verringerung der Produktion, die in diesem Fall noch durch die Treibstoffkrise verschärft wird, und paßt sich einem politischen Rhythmus, der alle fünf Jahre große Entscheidungen — die Generalwahlen — herbeiführt, höchst unvollständig an. Und doch mußte etwas geschehen, um das Vertrauen im Elektorat, die Stimmung unter den Tories selbst wieder zu festigen. MacMillan entschloß sich zu einer Kürzung der Wehrausgaben und inneren Maßnahmen, wie sie der rechte Flügel seiner Partei schon seit längerem gefordert hatte. Dem Entschluß wohnt eine tiefe Problematik inne. Was den Rüstungssektor anbelangt, so gab es drei Möglichkeiten: Man konnte die Arbeiten an der Wasserstoffbombe, die fast fertig ist, aber trotzdem riesige Mittel verschlingt und natürlich einen ganzen Forschungskomplex umschließt, einstellen. Man konnte eine Straffung der Truppen durchführen, die über die ganze Welt verstreut sind; die Suez- Intervention hat beispielsweise gezeigt, daß es nutzlos ist, Regimenter in Libyen und Jordanien stehen zu haben, die nicht eingesetzt werden konnten, selbst in Korea stehen noch 5000 englische Soldaten, und man konnte, drittens, die Rheinarmee drastisch reduzieren. Die Weiterarbeit an der Wasserstoffbombe einzustellen, schien MacMillan einer Preisgabe großbritannischer Weltgeltung gleichzukommen. Gerade in einem Augenblick, wo man mit Nordamerika gestritten hatte, mag man sich auch der Warnung Churchills erinnert haben, daß man sich im Ernstfall nicht auf die Bombardierungen der Amerikaner verlassen dürfe, da diese vielleicht den Zielen, die im Lebensinteresse Europas als erste angegriffen werden müßten, nicht die nötige Priorität zuerkennen könnten. Man hätte meinen sollen, daß sich nun die zweite Möglichkeit, die Straffung des globalen britischen Dispositivs aufgedrängt hätte. Doch gibt es hier eine Unzahl lokaler Interessen und möglicher Einwände, und so entschloß man sich, lieber das mit einem einzigen Schlag zu erzielen, was sonst eine Reihe kleiner „Gefechte” notwendig gemacht hätte, man entschloß sich, die Rheinarmee zu reduzieren und die zweite taktische Luftflotte herauszuziehen. Dabei war die Bedrängnis so groß, daß man es an der üblichen Verstellungskunst fehlen ließ und die Sache so anpackte, wie sie, vom Standpunkt MacMillans, nicht hätte angepackt werden dürfen.

Die Rheinarmee hätte nämlich auf alle Fälle umorganisiert werden müssen. Sie ist noch ins klassische Divisionsschema eingeteilt und stellt den Typ einer Truppe dar, wie sie nach englischer (allerdings nicht nach deutscher) Auffassung in einer modernen Auseinandersetzung unbrauchbar sein wird. Kleinere, vom Nachschub wenig abhängige Einheiten sollen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in England selbst, wo bis April 1959 mehr als 70.000 Fahrzeuge, 250.000 Tonnen Munition und mehr als 120.000 Tonnen mechanisches Lagermaterial abgestoßen werden sollen, auf den „mageren Krieg” der Zukunft überleiten. Taktisch gesehen wäre es also wohl richtig ge wesen, diese Umgruppierung einzuleiten, dann erstaunt in die Hände zu klopfen und zu sagen: „Stellt euch vor, Freunde, wir haben da nicht nur etwas Supermodernes auf die Beine gestellt, sondern noch dazu dreißigtausend Mann ein- gespart!” Die deutschen Generale hätte man damit freilich nicht getäuscht, aber die westeuropäische Oeffentlichkeit wäre weniger vor den Kopf gestoßen worden und die Politiker hätten größere Konzessionen machen können. Was nun die inneren Maßnahmen MacMillans anbelangt, so muß man sich vor Augen halten, daß die Rückschläge bei den Nachwahlen nicht so sehr auf ein Ansteigen der Labour-Stimmen als auf ein Absinken der konservativen zurückzuführen sind. Der Gedanke liegt also nahe, dem Patienten ruhig etwas drastischere konservative Medizin, wie das leidenschaftlich umstrittene Mietengesetz, einzuflößen. Damit wird allerdings die Gefahr neuer Lohnkämpfe heraufbeschworen, die in den nächsten Monaten die Entwicklung in England kennzeichnen werden. Das Bild ist düster und es läßt sich wenig Licht in ihm entdecken. Man wird aber gut daran tun, sich vor Augen zu halten, daß bis zu den nächsten Wahlen noch mehr als zwei Jahre vergehen werden und daß MacMillan jede Chance mit Energie und Wendigkeit nutzen wird. Schon jetzt zeigt sich, daß die englische Wirtschaft die Suezkrise besser überstanden hat, als man fürchtete. Eine Verschiebung der Weltmarktpreise um nur wenige Prozent zugunsten Englands könnte das Bild weiterhin radikal verbessern. Dazu kommt, daß das sozialistische Programm an sich nicht populärer geworden ist; man wählt Labour, weil es die Alternative darstellt, nicht weil man weitere Verstaatlichungen herbeisehnt. In diesem Widerspruch liegt eine kleine Chance der Tories.

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