Ein unbequemes Meisterwerk

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DIE KLAVIERSPIELERIN - La Pianiste

Erika Kohut ist Klavierprofessorin in Wien und lebt mit ihrer sie tyrannisch kontrollierenden Mutter in einer ambivalenten Symbiose. Als ein junger Student um sie wirbt, widersetzt sie sich lange, gibt schließlich nach und enthüllt ihm ihre sadomasochistischen Phantasien, was ihr bislang mühsam stabiliertes Lebensarrangement zusammenbrechen läßt. In seiner zutiefst ernsthaften und kompromißlosen Erzählweise und Bildgestaltung konfrontiert Haneke seine Zuschauer sowohl mit erschreckenden Wahrheiten menschlicher Existenz als auch mit der Ambivalenz und den Pervertierungsmöglichkeiten von Kunst (hier im besonderen der Musik). Grandiose Schauspieler und vor allem die reflektierte und originäre Form des Films machen ihn zu einem zwar unbequemen, aber auch unvergleichlichen und zeitlosen Meisterwerk. Ab 18.

Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten, es schlafen die Menschen in ihren Betten." Dieses berückend schöne Lied von Franz Schubert erhält ein ganz anderes, erdrückendes Umfeld, sodass der Text neue Assoziationen aufdrängt: die Ketten einer desaströs destruktiv-symbiotischen Beziehung zwischen einer Mutter und ihrer Tochter, und die Menschen, die in einem Bett schlafen, sind die beiden - die Tochter aber ist schon über 40.

Erika (Isabelle Huppert) ist Klavierprofessorin in Wien, lebt noch immer bei ihrer Mutter (Annie Girardot), die tyrannisch über jeden ihrer Lebensschritte wacht, ihre Geldausgaben und ihre Kleidung kontrolliert, sie mit unerbittlichem Ehrgeiz zum Üben antreibt und nicht akzeptieren kann, dass ihre Tochter keine gefeierte Konzertpianistin geworden ist. Auf dieses unentrinnbare Unterdrückungsystem reagiert die Tochter in der Wohnung ambivalent, von wüsten Auseinandersetzungen bis zu fast inzestuösen Bettkuscheleien. Außerhalb der Wohnung spielt sie wunderbar Klavier, spricht eindrucksvoll über Musik, ist eine begehrte Lehrerin - aber all das macht sie mit steinernem emotionslosem Gesicht, ist für alle völlig unnahbar, immer aufs äußerste kontrolliert. Um sich selbst überhaupt spüren zu können, muss sie sich zu Hause ins Badezimmer zurückziehen, in einer rituellen Geste eine versteckte Rasierklinge auspacken und sich über der Badewanne ihr eigenes Geschlecht verletzen. Als die Mutter zum Essen ruft, spült sie das Blut ungerührt weg und geht zur ihr. An anderen Tagen streift sie durch Sexshops, mit ihrem ungerührten Gesicht, und riecht in einer Kabine an einem Papiertaschentuch voll Sperma, das sie aus dem Abfallkübel holt.

Bei einem Hausmusikabend lernt sie ein junger, vitaler und begabter Mann kennen und ist von ihr angezogen. Er wirbt um sie und schafft es sogar, in ihre Klasse aufgenommen zu werden. Lange weist sie ihn kalt, arrogant und verletzend ab. Als sie schließlich nachgibt, besteht sie aber unerbittlich darauf, die Kontrolle über die Situation zu behalten. Ihr größter Annäherungsakt an ihn, das Zeichen der Hingabe besteht letztlich darin, dass sie ihm in einem von ihr auf äußerste angespannten und dominierten Moment ihre sadomasochistischen Phantasien offenbart. Damit hat sie ihren Panzer durchbrochen, und er ist damit völlig überfordert. Die Katastrophe für sie ist nicht mehr aufhaltbar. Sie verliert die Kontrolle über die Ereignisse, was zwar genau das ist, was sie unbewußt zutiefst herbeigesehnt hat, aber in der Wucht der nun entfesselten Dynamik nicht mehr bremsen kann.

Michael Haneke ist wohl einer der intellektuellsten, ernsthaftesten und konsequentesten Regisseure unserer Zeit. Er durchbricht jede Form des konventionellen Erzählkinos, und das hat nicht nur mit dem Drehbuch, sondern vor allem auch mit der Bildgestaltung zu tun. Weder die Textebene noch die die Bilder gewähren dem Zuschauer Ausflüchte in eine harmonisierende Sichtweise und schon gar nicht in ein oberflächlich psychologisierendes Deutungsmuster. Sein Film wirkt wohl auf viele unbarmherzig, weil man einer Realität, ja einer menschlichen Wahrheit, ungeschminkt, ungeschönt und unversöhnt ins Auge sehen muss. Wer das nicht aushält, lehnt Hanekes Filme (oft sehr vehement) ab. Wer zur Konfrontation mit existentiellen Fragen ohne vorschnelle Beruhigung bereit und fähig ist, kann erkennen, dass Haneke heute mit seinen Werken in die Filmlandschaft einbricht wie vor Jahrzehnten ein Ingmar Bergmann mit seinen provokantesten Werken.

Erika, die unentrinnbar gefangen und deformiert ist in einem System der Unterdrückung und eigennützigsten Machtausübung, nimmt auch die Musik (das Medium, die Kunst) in ihren Dienst und macht sie - in Petvertierung ihrer befreienden, entgrenzenden und zugleich orientierenden Potentiale zu einem Unterdückungsinstrument in ihren Diensten. All das findet sich in den unglaublichen Bildern Hanekes, die bloß darauf warten, von offenen Zuschauern tatsächlich gesehen, ausgehalten und erkannt zu werden, auch wenn sie sich nicht als Vorleistung in irgendeiner Weise anbiedern.

Richard Richter

Österreich / Frankreich 2001 - Produktion: Les Films Alain Sarde / MK2 / Wega Film / Arte / France Cinéma - Produzent: Michael Katz, Yvon Crenn - Verleih: filmladen - Länge: 130 Min. - Regie: Michael Haneke - Buch: Michael Haneke, nach dem gleichnamigen Roman von Elfriede Jelinek - Kamera: Christian Berger - Schnitt: Nadine Muse, Monika Willi - Darsteller: Isabelle Huppert, Walter Klemmer, Annie Girardot, Anna Sigalevitch, Susanne Lothar, Udo Samel - BBWK: nicht eingereicht - Prädikat: besonders wertvoll

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