6841240-1975_45_06.jpg
Digital In Arbeit

Die Dauerblamage

19451960198020002020

Der sowjetisch-amerikanische Getreidevertrag ist zweifellos das wichtigste kapitalistisch-kommunistische Wirtschaftsereignis der zweiten Hälfte des laufenden Jahres. Nur das amerikanische Brot ermöglicht die reibungslose Ernährung des Sowjetvolkes, worüber übrigens das Moskauer Regime die eigene Bevölkerung nicht informiert hat, was aus ideologischen Gründen und wegen der;schweren Dauerblamage der „sozialistischen Wirtschaft“ gewissermaßen verständlich ist.

19451960198020002020

Der sowjetisch-amerikanische Getreidevertrag ist zweifellos das wichtigste kapitalistisch-kommunistische Wirtschaftsereignis der zweiten Hälfte des laufenden Jahres. Nur das amerikanische Brot ermöglicht die reibungslose Ernährung des Sowjetvolkes, worüber übrigens das Moskauer Regime die eigene Bevölkerung nicht informiert hat, was aus ideologischen Gründen und wegen der;schweren Dauerblamage der „sozialistischen Wirtschaft“ gewissermaßen verständlich ist.

Werbung
Werbung
Werbung

DiÄ Sowjetpresse übte sich in seltener Zurückhaltung und Diskretion und , orientierte die Öffentlichkeit diesmal ebensowenig über die Verhandlungen und den Abschluß des Vertrages wie im Jahre 1972, als Moskau gezwungen war, nicht weniger als 25 Millionen Tonnen Getreide in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Argentinien aufzukaufen. Die Käufe von Brot- und Futtergetreide fluktuierten erheblich. In den USA hat Moskau 1972 bis 1973 13,7 Millionen Tonnen Getreide erworben, 1974 nur 1,8 Millionen.

Im Juli 1975 trat Moskau dann wieder als Großein'käufer auf dem USA-Markt auf und erwarb 10,2 Millionen Tonnen Getreide, wobei angedeutet wurde, daß die UdSSR noch weitere ansehnliche Mengen kaufen möchte. Gleichzeitig kauften die Russen noch weitere vier Millionen Tonnen in Kanada, Australien und Argentinien. Die UdSSR scheint diesmal unersättlich zu sein. Nach Andeutungen stehen noch zehn Millionen Tonnen auf der Wunschliste. Das einzige Land der Welt, das verkäufliches Getreide in solchen Mengen besitzt, ist Nordamerika.

Außenhandelsminister Nikolaj Pa-tolitschew hat die Verhandlungen persönlich geführt, ein Beweis dafür, wie wichtig und dringend das amerikanische Brotgetreide für die Sowjetunion ist.

Warum kann Moskau eigentlich die Bevölkerung nicht mit ihrem eigenen Bort versorgen? Es gibt zahlreiche Gründe dafür. Zugegeben, in vielen Teilen der UdSSR ist das Klima unberechenbar. Die Mechanisierung der Landwirtschaft ist noch immer mangelhaft und — das wird man natürlich niemals zugeben — das kollektive Wirtschaftssystem ist verfehlt. Dazu kommt die niedrige Qualität des sowjetischen Kunstdüngers.

In der UdSSR produzieren 70 Millionen Beschäftigte in der Kolchosewirtschaft weniger als acht Millionen freie, unabhängige amerikanische Farmer! Die sowjetische Agrarinve-stitionen machen 24 Prozent der Wirtschaft aus, die amerikanischen weniger als vier Prozent. Die UdSSR besitzt nur halb so viele Traktoren wie die USA. Korruption innerhalb des „Agrarestablishments“ behindert die reibungslose Durchführung der Maßnahmen. Breschnjews Anstrengungen, mit Hilfe von 20 Milliarden Rubel landwirtschaftlicher Sofortinvestitionen die Produktion zu steigern, schlugen fehl. Die Bratknappheit ist chronisch. Lateinamerikanische Touristen berichteten kürzlich sehr erstaunt, daß sie in Moskau lange Käuferschlangen vor Bäckereien gesehen hätten, wo die Leute zwei Stunden lang auf ihr Brot warten mußten. Um Würste zu ergattern, mußten sie noch länger Schlange stehen.

Die sowjetischen Nahrungsmittel sind von niedrigerer Qualität als die westlichen. Die Russen essen siebenmal mehr Brot als die Westeuropäer, weil man im Westen mehr Fleisch konsumiert. Besondere Schwierigkeiten bereitet es der Sowjetregierung, daß sie nicht nur die seit Stalin anspruchsvoller gewordene Bevölkerung, sondern auch die Tiere mit Weizen füttern muß, um mehr Milchprodukte und Fleisch erzeugen zu können. Die Anstrengungen der vergangenen Jahre haben es ermöglicht, daß der Fleischkonsum um 20 Prozent gesteigert werden konnte. Dennoch ist man von Chruschtschows „Gulaschkommunismus“ immer noch weit entfernt und die Sowjetbevölkerung ißt weniger Fleisch und Fleischwaren als sogar die Bewohner des osteuropäischen Wirtschaftsblocks. Daß das Urbarmachungsprojekt in Kasachstan mit „freiwilliger“ Jugendzwangsarbeit ein Fehlschlag war, leugnet heute niemand mehr.

Breschnjew bemühte sich ehrlich, die landwirtschaftliche Produktion zu verbessern; er begann seine Karriere als Agraringenieur. Seine Erfolge sind aber weniger als mäßig. Unvoreingenommene westliche Experten rechnen damit, daß die UdSSR im Jahre 1985 mindestens 50 Millionen Tonnen Getreide und Lebensmittel wird importieren müssen. Es ist zu befürchten, daß ärmere Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien sich an einem Wettlauf mit der Sowjetunion nicht werden beteiligen können, wenn Moskau die Weltreserven auf kauft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung