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Eine ersehnte Behausung

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Heimkehr nicht in die verlorene, sondern in die ersehnte Behausung der Kindheit: in das Andersgeartete und durch wiederholte Tagträume dennoch bereits Vertraute.

VieUeicht haben Urgroßväter hinter ähnlichem Gemäuer vorübergehend Zuflucht gefunden: wandernde Handwerker, Gelegenheitsarbeiter, Musikanten oder mietbare Schreiber der Wochenmärkte im Dienste von verliebten Köchinnen oder prozessierenden Bauern, die es drängte, sich schriftlich zu äußern, ohne des Lesens und Schreibens kundig zu sein. Vielleicht war einer der Ruhelosen in ein Haus solcher Beschaffenheit eingekehrt, in die Kühle der schattigen Stuben, in die stüle Sanftmut einer . schweigsamen jungen Witwe, die dem Gast leicht zunickte und den Tisch zu decken begann. VieUeicht aber war nicht Ähnliches geschehen und der Urgroßvater - oder dessen Urgroßvater - war bloß stehengeblieben in der Nähe des weiß getünchten Hauses und hatte es bloß sehnsuchtsvoll, neidisch, verbittert betrachtet, bis der Hund zu beUen anfing, der Hausherr vor die Türe hinaustrat und dem fremden Menschen so lange ins Gesicht blickte, bis dieser einen Gruß murmelte und weiterzog.

Die Erbschaft, die wir besitzen, ist uns nicht in ihrem ganzen Umfang bekannt; wir haben von irgendwelchen Ahnen nicht nur körperliche Merkmale und innere Neigungen erhalten, sondern auch aufblitzende Büder der Erinnerung. Jeder Augenblick des Wiedererkennens von bisher niemals Erbücktem ist bloß eine ferne und schwache Aufhellung eines der in uns vorhandenen, durch das eigene primäre Erleben überschatteten Büder. Die Bestürzung angesichts des Phänomens, das man dejä vu nennt, ist nichts als ein Akt stürmischer Selbstbesinnung.

Die Häuser der Kindheit waren anders gewesen als dieses hier. Das Eisengitter des Treppengländers Ueß im verschlungenen Muster halb verborgen böse Zwerge sehen in breitkrempigen Hüten und in Pluderhosen, die kleinen Fäuste in die Hüfte gestemmt. Die bunten Fensterscheiben einer Schwingtür ergaben das Büd eines Turmes, der jedesmal, wenn jemand durch die Tür kam, in Stücke zerfiel. Die Schnitzereien oberhalb der Lehnen der beiden Armsessel konnten leicht als grinsende Männergesichter erkannt werden; das geometrische Muster des großen Teppichs verbarg eine Schar von Raubvögeln, die sich bei künstlichem Licht aus ihrer Erstarrung lösten und sich lautlos, mit scharfen Schnäbeln und Krallen, in 'die Luft erhoben; und die hoch und breit emporragende Feuermauer des Nachbarhauses zeigte, graubraun und schmutziggelb befleckt, in den kantig auskragenden Schichten des abbrök-kelnden Verputzes manche merkwürdigen Tiere, unter ihnen auch einen Löwen, über dem in weiten Röcken und mit emporgehobenen Armen eine Frau stand. Löwe und Frau zusammen waren Gott

In den Toreingängen anderer Häuser gab es steinerne Fontänen in der Halbkreisform einer Muschel; das lange Haar einer halbnackten Frau hing in das Becken und war mit dem wirren Bart eines Männergesichtes verwoben, das zähnefletschend ' das Messingrohr im Mund hielt, aus dem das Wasser nicht floß. Frösche, Spinnen und Schmetteriinge hatten sich im Bart des Mannes verfangen. Im Git-terwerk, das die mit geschnitztem Holz getäfelte Kabine des Aufzugs vom Treppenabsatz trennte, Utten kleine Lebewesen, von den Schlingpflanzen eines eisernen Urwaldes umrankt. Irgendwo schnappten Riesenschlangen nach kugelrunden Vögeln, die klein waren wie wasserblasse Äpfel und mit leisen Kinderstimmen weinten.

Aus diesem bösen Garten der geheimnisvollen, meistens verkrüppelten und grausamen, jedenfaüs übermächtigen Gestalten, die vorerst wie durch einen Zauberspruch erstarrt waren, sich jedoch in jedem Augenblick wieder in Bewegung setzen konnten, aus dieser andauernden Ge^ fährdung konnte man fliehen, zum Beispiel in die Krankheit. Der Arzt kam. Die Kühle des Silberlöffels berührte die Zunge; es war wie ein plötzlicher Schlag, lustvoll und widerlich zugleich. Die süberne Säule im Fieberthermometer stieg über den roten Punkt. Der Bück auf die weiß überzogene Daunendecke streute über eine hügelige Landschaft, die sich, frei von bedrohlichen Wunderwesen, gegen die Ferne der beiden Füße im ruhigen Dämmerlicht verlor. Diese Welt der Kuppen und Kuhlen fügte sich der gestalterischen Laune, türmte sich manches Mal über dem linken Knie und glättete sich über dem rechten Bein zugleich zur Ebene, auf der ein Zinnsoldat wohlbehütet marschierte.

Hier entstand, vielleicht auch durch jene verschütteten Erinnerungen geformt, das Modell des Hauses, in das man als erwachsener Mann dann heimkehren durfte: die sanfte Landschaft und in ihr der übersichtiiche freie Raum eines mit niedrigen Mauern umgebenen Gartens und in den Abhang hineingebaut, von diesem beschützt, dem leicht ansteigenden Boden folgend, das Haus selbst, erbaut irgendwann gegen Ende des letzten Jahrhunderts, neu überdacht im Jahre 1926 (die Zahl war auf einem Dachbalken zu lesen), nach einer Zeit des Ver-faUs wiederhergestelt: ein langgestreckter, niedriger, mit Kalk oft überzogener Bau, dessen Schmalseite mit zwei Fenstern unter dem abgeschrägten Giebel auf den ungepflasterten Durchgang bückte und auf das fensterlose Weiß einer Hausmauer gleich gegenüber.

Zwei Straßen weiter wuchs Wein; am Rande des Gartens, etwa in Dachhöhe, stand ein Nußbaum und hinter dem Haus stand der zweite; und wenn man sich ins Gras auf den Rücken legte, dann konnte man in das immer ein wenig bebende Geäst eines Birnbaumes bücken, dessen längster Zweig fast über die Eingangstür des Hauses reichte. Ein langer, in wenigen Stufen ansteigender Gang verband die vier Wohnräume, und wenn man mit der Hilfe eines Plattenspielers ein wenig musizierte, war das Haus ein einziger Klangkörper, in dem man saß, leichten Weißwein in dicken Gläsern betrachtend.

Noch wirkten die Schreckensgespenster: durch die Angst, man müsse für redüche Ruhe durch allerlei Unglück bezahlen und durch den Zweifel an der Möglichkeit, eines Tages tat-sächüch heimzukehren in die Geborgenheit des eigenen, von fremden Kräften nicht deformierten Lebens. Etwas lauerte noch: jedoch: es sprang doch nicht los. Man war eingetreten, blickte in das freundüche Schimmern eines vertrauten Lächelns, schloß hinter sich die Tür und war - endüch - daheim.

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