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„Ich war fremd, und ihr habt ..."

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Die Kolumne "Zeitgespräch" zum Weihnachtsfest 1992.

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Die Kolumne "Zeitgespräch" zum Weihnachtsfest 1992.

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Über dem heurigen Weihnachtsfest steht groß und drohend das Wort: „Fremde". „Es gibt zu viel Fremde", sagen viele. Sind das nur die Ausländer?

Wer ist mir fremd? Den ich nicht kenne. Dessen Sprache ich nicht verstehe. Der anders fühlt als ich. Mit dem ich mich nicht gemeinsam freuen, mit dem ich auch nicht trauern kann. Fremd ist, mit dem ich nichts zu teilen habe, dem ich also teilnahmslos gegenüberstehe, Sind das nur Ausländer? Sind uns nicht viele in letzter Zeit fremd geworden, die mit uns aufgewachsen sind? Jene, die anders denken, eine andere Weltanschauung oder politische Überzeugung haben? Menschen, mit denen wir sogar auf der gleichen Kirchenbank sitzen, aber über manches in der Kirche uneins sind? Verstehen wir noch ihre Sprache? Was verbindet uns noch, was trennt?

Fremdwerden dringt ein in eheliche Partnerschaft und Familie. Immer mehr Eheleute werden sich fremd, „gehen fremd". Kinder wachsen heran und sind eines Tages den Eltern wie Fremde geworden. Es gibt viel zuviel Fremde unter uns. Keineswegs nur Ausländer.

Was tun? Fremdsein und Fremdwerden sind kein unentrinnbares Schicksal. Es ist immer die Geschichte einer Beziehung. Fremdsein schwindet, wo man ein Stück des Weges miteinander geht. Freude und Not teilt. Erlebt, daß einer den anderen braucht. Wo man auf Gemeinsames stößt: in der Geschichte, in der Art zu fühlen, in gleicher Sehnsucht und Hoffnung, auch im gleichen Glauben. Fremdsein schwindet, wo mich der andere einen Blick in sein Inneres werfen läßt. Dorthin, wo er unverwechselbar nur er selbst ist.

Wie kommen wir Ausländern näher? Wenn ihre Not uns rührt. Uns bewußt wird, daß auch wir sie brauchen. Daß wir eine gemeinsame Geschichte haben: im ehemals großen Österreich, im gemeinsamen Stehen vor Gott, sogar über Religionsgrenzen hinaus.

Abbau des Fremdseins in Gesellschaft und Kirche? Wenn doch der Respekt voreinander wüchse, die Bereitschaft, voneinander und miteinander zu lernen. Und man nicht Schuld aufrechnet, sondern vergeben könnte.

Und in Ehe und Familie? Man müßte das Fremdwerden im Keim erkennen und ersticken. Den ersten Anzeichen wehren. Sich Zeit nehmen füreinander und offen reden. Mitfühlen, vergeben, auch Schweres durchhalten. Das gemeinsam Erlebte mehr schätzen und immer noch einer besseren Zukunft eine Chance geben.

Der Sohn Gottes ist als Fremder in diese Welt gekommen. Das rührt und schockiert uns in diesen Tagen. Wir begegnen ihm aber nicht nur im trauten Bild der Krippe, sondern in lebendigen Gestalten, oft näher, als wir glauben. Er mahnt uns, wie damals: „Ich war fremd, und ihr habt..." Was haben wir getan, was gedenken wir zu tun, gerade heuer zu Weihnachten?

Der Autor ist Weihbischof in der Erzdiözese Wien.

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