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Lesekultur und Medienkonsum

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Eine geradezu schizophrene Entwicklung kennzeichnet unsere Zeit: Die Zahl der aufgelegten Bücher steigt rapid von Jahr zu Jahr an, in vielen wissenschaftlichen Fächern nimmt die Zahl der Fachzeitschriften zu, neue und billige Photokopierverfahren er leichtern die Vervielfältigung von Texten und dennoch lesen immer weniger Menschen Bücher, beklagen sich Wissenschaftler, daß sie nicht mehr Zeit zum Lesen finden. Das Interesse konzentriert sich immer mehr auf die Massenpresse und das Fernsehen.

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Eine geradezu schizophrene Entwicklung kennzeichnet unsere Zeit: Die Zahl der aufgelegten Bücher steigt rapid von Jahr zu Jahr an, in vielen wissenschaftlichen Fächern nimmt die Zahl der Fachzeitschriften zu, neue und billige Photokopierverfahren er leichtern die Vervielfältigung von Texten und dennoch lesen immer weniger Menschen Bücher, beklagen sich Wissenschaftler, daß sie nicht mehr Zeit zum Lesen finden. Das Interesse konzentriert sich immer mehr auf die Massenpresse und das Fernsehen.

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Der hl. Augustinus hat in einem seiner Frühwerke festgestellt, daß die Sprache eine gesellschaftliche Angelegenheit sei: „Auch kann sich der Mensch dem Menschen nur dann zugesellen, wenn er spricht” (De Ordine 2,12). Damit hat er vorweggenommen, wsas die modernen Sprachwissenschaftler immer wieder betonen. Und lange vorher hat schon Thukydides auf den Mißbrauch hingewiesen, der mit der Sprache getrieben werden kann, auf ihre „Umfunktionierung” und Unterwanderung durch Politiker und Ideologen:

„Selbst die gewöhnliche Bedeutung der Worte für die Sachen änderte sich nach Gutdünken: Frechheit ohne Sinn und Verstand war Mannesmut neuer Parteigenossen, vorsichtiges Zögern - getarnte Angst, besonnenes Verhalten - Maske des Feiglings. Vernunft in allem - Versagen bei jedem. Verrückter Radikalismus wurde echter Mannesart zugerechnet. Wer seine Unternehmungen bedächtig zu sichern trachtete, suchte nur einen feigen Vorwand, sich zu drücken. Wer über alles murrte, auf den konnte man sich verlassen. Wer aber den Hetzern wider sprach, war verdächtig. Wem seine Ränke gelang, galt für klug. Für noch bedeutender, wer hinter allem etwas witterte.” (Pentekontaetie 6, 12)

All dies könnte auch heute geschrieben werden und unterstreicht die Bedeutung der Sprache für ein demokratisches Staatswesen, das vom Austausch der Ideen lebt und für das die Meinungsvielfalt eine unabdingbare Notwendigkeit ist. Aber hier beginnt bereits das Dilemma. Staat und Gesellschaft können zwar für Meinungsvielfalt plädieren und sie vielleicht sogar - aber das ist zweifelhaft - durch gesetzliche Normen garantieren, aber sie sind nicht imstande, die Menschen dazu zu zwingen, davon Gebrauch zu machen. Die Klagfe ist nicht neu: das Fernsehen schnappt den Leser weg, das Lesezeitalter ist zu Ende. Die Meinungsvielfalt aber gilt nur beim Lesen, das Fernsehen verkürzt alle Dinge, simplifiziert und adjustiert alles Geschehen nach eigenen Gesetzen.

Lesen ist etwas ganz anderes als Fernsehen. Beim Lesen - sei es Zeitung oder Buch - habe ich die Wahl; bestimme selbst den Zeitpunkt und die Dauer, muß selbst aktiv werden. Ganz anders beim Fernsehen, wo ein starres Programm mir vorschreibt, was ich hören und sehen soll, wo die optische vor der sprachlichen Dokumentation steht und das Sensationelle vor dem Wichtigen Vorrang hat. Die suggestiven Aussagen des Fernsehens können aber nur dann relativiert werden, wenn echte Lesekultur Möglichkeiten bietet, die Behauptungen des Fernsehens auf den inneren Gehalt zu überprüfen.

Das, was man bei uns Medienpolitik zu nennen beliebt, bezieht sich fast immer nur auf die Massenmedien. Vom Buch spricht man kaum, Lesekultur ist nicht „in”. Und dabei ist gerade die Lesekultur, wie Ludwig Muth einmal festgestellt hat, „Ausdruck individueller Freiheit und privater Unverfügbarkeit”, sehr im Gegensatz zu Rundfunk und Fernsehen, die kollektiv aufgenommen werden können.

Ein immer wieder gehörtes Argument gegen das Lesen: Zeitmangel. Man kommt kaum dazu, die Zeitung zu lesen, in den höheren Etagen der Bürokratie und bei den großen Managern „läßt man lesen” und verläßt sich auf die vom Pressereferenten zusammengestellten Auszüge aus Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Der „Minister” läßt andere für seine Reden „nachdenken”, läßt andere für sich „lesen”. Wenn all dies so ist, so beweist dies nur, daß Zeitökonomie in den höheren und höchsten Rängen ein unbekanntes Vokabel ist und in der Rangordnung der Werte leere Repräsentation für wichtiger gehalten wird als gute Lektüre.

Prof. Elisabeth Noelle-Neumann, die Leiterin des Demoskopischen Institutes in Allensbach, hat schon vor langer Zeit in einer Untersuchung das Problem der Lesekultur in den Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung gestellt und dabei festgestellt, daß die allgemeine Erhöhung des Lebensstandards in den letzten Jahrzehnten einerseits dazu führte, daß der „Arbeiter” im materiellen Bereich und in seinem sozialen Gehaben „verbürgerlichte”, anderseits aber im geistigen Bereich eine allgemeine „Verproletarisierung” stattfand, d. h. daß das geistige Niveau von Angestellten, mittleren Beamten und Selbständigen beträchtlich gesunken ist. Man ist heutzutage „in”, wenn man sich auch in bester Gesellschaft, wenigstens hie und da „vulgär” ausdrückt, über die hohe Literatur bestenfalls nachsichtig die Achsel zuckt.

Das Übel fängt bereits in der Schule an, wo die Kinder vielfach nur geläufiges Buchstabieren lernen, nicht aber Lesen im eigentlichen Sinn des Wortes. Vor lauter Fernsehen kommen unsere Schulkinder gar nicht dazu, ordentlich lesen zu lernen. Untersuchungen der letzten Zeit haben zu dem erschreckenden Ergebnis geführt, daß die Leseleistung fäst aller Zehnjährigen nur 80 Wörter je Minute erreicht Vor 50 Jahren kamen sie noch auf 300 Wörter, ein Ziel, das heute nur die ganz wenigen Leseratten unter den Zehnjährigen erreichen.

Auf den Hochschulen aber sind die Studenten an allem uninteressiert, was nicht unmittelbar zum „Fach” gehört. Man liest nur das Nötigste und bevorzugt auch dabei Exzerpte. Erst in den letzten Tagen ließ die Klage eines berühmten Anglisten aufhorchen: seine Schüler fragten, ob sie denn wirklich diesen oder jenen Autor in „Englisch” und von Anfang bis zum Ende lesen müßten.

So nimmt es nicht wunder, wenn es um das Lesen in Österreich schlecht bestellt ist. Nach einer lFES:Untersuchung lesen nur 21% der Österreicher regelmäßig Bücher, weitere 12 % sporadisch, wogegen 42% absolute Nicht-Buch-Leser sind, nur 8% lesen praktisch jeden Tag ein Buch. Und schon beim Mikrozensus des Jahres 1972 stellte das Statistische Zentralamt fest, daß 67% aller Österreicher während des Jahres für den Eigenbedarf kein Buch kaufen.

Und das ist eigentlich merkwürdig angesichts der Tatsache, daß die Zahl der gedruckten Bücher von Jahr zu Jahr ansteigt. Die Frankfurter Buchmesse wird langsam zum Alptraum, „Bestseller” werden am laufenden Band produziert und „vermarktet”, das Buch ist zum industriellen Massenprodukt geworden, das wertvolle Buch, das wenige Bleibende aber oft nicht einmal mehr in Antiquariaten zu haben Und Statistiker haben errechnet, daß es heute mehr Buchkäufer als Buchleser gibt. Das Lesen aber ist notwendig, im besonderen im modernen Versorgungsund Wohlfahrtsstaat, um die bürgerliche Freiheit verteidigen zu können. Alexis de Tocqueville hat bereits vor 150 Jahren darauf hingewiesen, daß eine praktizierte Lesekultur ein wirksames Instrument in der Hand des Bürgers sei: „Der Buchdruck hat die Fortschritte der Gleichheit beschleunigt und er ist eines der besten Mittel für ihre Verbesserung.”

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