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Messe - Masse"

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Die Erfolgsgeschichte von „Mass Appeal", dem ersten in New York uraufgeführten Stück des jungen amerikanischen Dramatikers Bill C. Davis, ist typisch für die hiesigen Theaterverhältnisse, insofern sie die mühseligen Umwege eines Manuskripts von einem unbekannten Autor von der ersten Lesung bis zur unmittelbar bevorstehenden Broadway-Premiere reflektiert, untypisch, andrerseits, weil nur wenigen dieser dann scheinbar „über Nacht" passierte Durchbruch tatsächlich gelingt.

Das Stück, das von der Konfrontation eines alten katholischen Priesters mit seinem Lieblingsseminaristen handelt, daher also auf den ersten Blick einen nur ganz beschränkten „Appeal" hat, wanderte demgemäß von Schreibtisch zu Schreibtisch, von Agentur zu Dramaturgien, off und off-off-Inten-danten bis es in die Hände der großartigen Schauspielerin Geraldine Fitzgerald geriet, die übrigens irischer Abstammung ist, und deshalb vielleicht dem Thema mit weniger Vorbehalt entgegenkam.

Neben ihren vielen Erfolgen im „traditionellen" amerikanischen Theater wagte sie sich ins Straßentheater, ist noch dazu eine ganz ausgezeichnete Bänkel- und Chansonsängerin und wollte nun mit diesem Stück als Regis-seuse debütieren. Sie organisierte zunächst eine Lesung im Circle Repertory Theatre, das sich vor allem durch die Förderung junger amerikanischer Dramatiker in dem von diesem Ensemble geprägten Stil eines sogenannten „lyrischen Realismus" verdient macht. Zur ersten Aufführung kam „Mass Appeal" ein Jahr später dann in einem off-Broadway Theater, dem Manhattan Theatre Club, wo es sofort zum Kenner-Geheimtip und bald zum überraschendsten Erfolg der Saison wurde.

Die „Mass" des Titels ist ein Spiel mit den englischen Bedeutungen des Wortes als Messen- und Massenappeal, wobei die Assoziation mit Sex-appeal selbstverständlich auf der Hand liegt. Eine größere Masse anzusprechen, sei es mit welchen Mitteln auch immer, von Bingo über Dialog-Predigten zu Darbietungen der Schwester Rosalie und ihren Marienschreiner Marionetten, darum geht es dem älteren Priester Tim. Er braucht die Pfarre aber auch als Bestätigung seiner selbst, sie bedeutet ihm Familie, Popularität, regelmäßige Geschenke, Sicherheit, und - eher uneingestanden und im Alkohol verdrängt - Resignation, Verlust einer früheren Phase, wo modern zu denken noch nicht in modisches Handeln umgesetzt wurde.

Der junge Seminarist Mark verkörpert die noch unverbraucht rebellische, kompromißlose Einstellung, ihm geht es um moralische Integrität, Ehrlichkeit und nicht um Status. Damit gefährdet er seine Chancen, tatsächlich zum Priester geweiht zu werden. Tim nimmt ihn als Studenten an, will ihn mit den praktischen Bedingungen des Priesterberufs vertraut machen. Unter ihren Meinungsverschiedenheiten, Argumenten und heftigen Konfrontationen entwickelt sich eine tiefe Vater-Sohn Beziehung.

Als Mark seinem Mentor seine homo- und heterosexuellen Erfahrungen vor der Seminarzeit eingesteht, rät ihm dieser, dem Monsignore gegenüber nur seine Heterosexualität zu erwähnen. Doch Mark will sein Priestertum nicht auf einer Lüge aufbauen und muß daher die Konsequenz auf sich nehmen. Er muß das Seminar verlassen. Tim versucht verzweifelt, in einer letzten Predigt an die Masse der Gläubigen zu appellieren, sie sollten sich für den umstrittenen Seminaristen einsetzen.

Damit endet das Stück mit einer Fülle unbeantworteter - unbeantwort-barer? - Fragen und Herausforderungen, die nicht nur den Priesterstand angehen, der hier in unmittelbare Nähe des Konsumenten- und Showgeschäfts gebracht wird, wobei ganz allgemeine Themen und Probleme der zeitgenössischen Existenz zwischen Pragmatik, Programmatik und jugendlicher Kom-promißlosigkeit berührt, freilich allerdings eben „berührt", gestreift und kaum gründlich behandelt werden. Das Stück bewegt sich entlang einer gefährlich fragilen Oberfläche, die Gefahr des Einbruchs ist immer da, es kracht auch und splittert, aber richtig aufgebrochen werden die Tiefen nicht.

Daß die Aufführung diese Tiefen nicht nur vermuten läßt, sondern auch ungemein ergreifend vergegenwärtigt, ist vor allem dem großartigen Milo O'Shea in der Rolle des alten Priesters zuzuschreiben, in dessen Verhältnis zu dem jungen Studenten (vom Autor selbst auch mit viel Humor und Selbstironie gespielt) das ganze Dilemma des heutigen Menschen sichtbar wird, der den Anschluß an seine Zeit nicht verpassen will, der „mit der Zeit" zu gehen glaubt, aber im Modischen versandet und sich selbst darin (aber ganz ohne Selbstmitleid, das muß mit Bewunderung betont werden) versinken sieht.

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß einer der erstklassigsten New Yorker Schauspielerinnen mit diesem Stück ihr verspätetes, doch umso ge-prieseneres Regiedebut feierte. Das Verständnis gerade des amerikanischen Schauspielers für das psychologische Fundament, das menschlich-allzu menschliche Detail einer Rolle kommt diesem Stuck besonders zugute.

Mit ungeheurer Sensitivität wird hier die unausgesprochene Ebene der geistigen und emotionellen Verwandtschaft zwischen den beiden entwickelt, wodurch die unmittelbar den Katholizismus betreffenden Fragen erweitert werden zum Problem der Möglichkeiten des Menschseins, der Menschwerdung im ganz grundsätzlichen moralischen Sinne, und weil es sich in diesem Kampf „nur" um Menschen handelt, kommt auch die irdischere Seite, das heißt das Menschliche, und damit der Humor auch nicht zu kurz, ein verständnisvoller, brüderlicher Humor, der ja auch dringend nötig ist, um an der kommerzialisierten Brüderlichkeit unserer Gesellschaft nicht zu zerbrechen.

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