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Möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit verdienen

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Asylanten und Gastarbeiter verleihen Europa zunehmend das Gepräge einer „multikulturellen” Gesellschaft. Zugleich stellt sich die Frage, ob die bisher praktizierte Assimilation der Zugewanderten tatsächlich die beste Form der Integration ist. Oder sollten wir unsere Vorstellung von „Heimat” als einem geschützten Lebensraum aufgeben?

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Asylanten und Gastarbeiter verleihen Europa zunehmend das Gepräge einer „multikulturellen” Gesellschaft. Zugleich stellt sich die Frage, ob die bisher praktizierte Assimilation der Zugewanderten tatsächlich die beste Form der Integration ist. Oder sollten wir unsere Vorstellung von „Heimat” als einem geschützten Lebensraum aufgeben?

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Laut Auskunft des Statistischen Amtes der Stadt Wien leben in der Walzermetropole über 200.000 polizeilich gemeldete Ausländer. Davon sind über 74.000 aus Jugoslawien, 40.000 Türken, 7.000 Polen, 5.600 Iraner, 4.600 US-Bürger und 2.700 Philippinen. Angst vor „Überfremdung”? Oder Wien als Talenteschmiede, Magnet für Glücksritter und soziale Aufsteiger? Werfen wir doch einen Blick über den häuslichen Zaun...

Das Brüsseler Forschungszentrum für Integration von Zuwanderern hat in den vergangenen Jahren viele aufschlußreiche Studien zum Thema „Gastarbeiter und Integration” durchgeführt. Belgien hat schon in den zwanziger Jahren eine systematische Zuwanderung von Gastarbeitern verzeichnet. Es waren vor allem Italiener und Osteuropäer, die in den Bergwerken und der Stahlindustrie der Wallonie und Flanderns Unterhalt suchten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten unter den neun Millionen Belgiern schon 368.000 Gastarbeiter. Anfang der sechziger Jahre wurde die Gastarbeiterpopulation gemischter: zu den Italienern stießen immer mehr Spanier, Griechen, Marokkaner und Türken. Derzeit stellen sie zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. In der Europazentrale Brüssel sind gar 25 Prozent der Einwohner Ausländer - doppelt soviele wie in Wien. Bei den Geburten entfielen im Vorjahr 40 Prozent auf die Nachkommen der Zuwanderer und über ein Drittel der Kinder und Jugendlichen sind Gastarbeiterkinder. Zum Vergleich: In Wien entfielen auf 15.941 Geburten nur978 auf Jugoslawen und 1.133 auf Kinder von Türken.

Die meisten Gastarbeiter kommen mit dem Vorsatz „in kurzer Zeit möglichst viel Geld zu machen und heimzukehren”. Dann läßt man doch lieber die Familienangehörigen nachkommen. Dabei kommt es zu einer paradoxen Situation: Der Ehemann, durch seine Arbeit besser im Gastland integriert als seine Frau, die meist den Haushalt besorgt, pflegt die Kontakte zur Heimat mehr als die weniger integrierte Gattin. Der Familienvater legt Wert darauf, häufig in die Heimat zu fahren, ein Haus zu haben und dort seinen Lebensabend zu verbringen. Die Frau schätzt mehr die Annehmlichkeiten der Infrastruktur des Gastlandes.

Suche nach ethnischen Wurzeln

Die zweite Generation übernimmt diese ambivalente Strömung: Äußerlich werden die Kultur und Werte des Gastlandes angenommen. Was die Tradition oder die familiären Beziehungen anbetrifft, werden die Maßstäbe des elterlichen Stammlandes angenommen. Die verschwommene Wahrnehmung der Kultur des Stammlandes, verbunden mit dem Festhalten an der Familientradition führt in der dritten Generation zu einer verstärkten Suche nach den ethnischen Wurzeln. Nicht ein Erlöschen, sondern ein Neuerwachen des Gefühles der Andersartigkeit ist die Folge.

Dadurch, daß die Gastarbeiterfamilien im privaten Leben vom Gastland quasi in „Quarantäne” gehalten werden, bilden sich ethnische Kolonien von hoher Beständigkeit. Der Integrationsprozeß wird dann höchstens durch gemischte Ehen verstärkt. Diese, so ergaben die Studien, kommen am ehesten zwischen religiös identen Gruppen zustande: Die katholischen Italiener, Spanier und Belgier, die moslemischen Marokkaner und Türken sind eher zu Verbindungen miteinander bereit als jenseits der Konfessionsgrenze. Wobei die Türken am wenigsten Mischehen eingehen.

Die religiöse Identität kann im Integrationsprozeß besondere Schwierigkeiten machen: In Belgien leben derzeit 250.000 Moslems: in Brüssel ist gar jeder zehnte Einwohner ein Anhänger des Propheten. Der Koran wurde inzwischen schon in den Stundenplan der Schulen aufgenommen. Der islamische Konservatismus, gepaart mit missionarischem Eifer, sorgt für Unruhe. Diskussionen zwischen westlich orientierten Mullahs und Christen sollen dem „Spaltpilz” die Spitze nehmen.

Während die Wanderungsströme der Arbeitssuchenden bis in die siebziger Jahre innereuropäischen Charakter hatten, steigt die Zuwanderung aus den Ländern der Dritten Welt stetig. Waren bis dahin Spanien und Italien klassische Auswanderungs-länder gewesen, wurden sie rtun selber mit einem Einwanderungsboom konfrontiert.

Angesichts dieses Wechsels in der ethnischen Zusammensetzung der Wanderungsströme ist es von Seiten der einheimischen Bevölkerung der entwickelten Regionen Westeuropas zu einer Diskriminierung zugunsten der „leichter zu integrierenden” Südeuropäer und zu Ungunsten der

„schwerer zu integrierenden” Gastarbeiter aus der Dritten Welt gekommen.

Um den Zuzug etwas einzubrem-sen verfolgten und verfolgen die einzelnen Gastländer verschiedene Taktiken: In der Schweiz und in Deutschland bevorzugte man die Zuwanderung von einzelnen Gastarbeitern, mit dem Hintergedanken, daß diese wohl leichter wieder zu ihren Familien in ihrem Stammland zurückkehren würden. In Frankreich und Belgien ließ man gleich die ganze Familie mitkommen. Und dann ist Schluß, dachten die Behörden. Aber die Familienbande sind weitschweifig, und auch diese Konzeption erwies sich als Schlag ins Wasser. Die Spekulation, daß die wachsende Arbeitslosigkeit in den Gastländern eine Rückwanderung veranlassen würde, war ebenfalls eine Seifenblase.

Vielmehr läßt sich feststellen, daß die ausländischen Arbeitslosen zu „Unternehmern” werden. Nicht weil sie besondere Kenntnisse hätten, sondern aus Not. Und die macht bekanntlich erfinderisch. Dabei bilden Gaststätten, Lebensmittelhandlungen, Reparaturwerkstätten sowie Obst- und Gemüsemärkte die bevorzugten Sparten, in denen sich der private Fleiß heranbildet. Da es sich meist um Familienbetriebe handelt, sind die Arbeitskräfte billig und die Arbeitszeit ist mehr als flexibel. Damit kann man mit dereinheimischenKon-kurrenz schritthalten oder zuminde-stens überleben.

Kamen anfänglich Hilfsarbeiter, sind nun Fachkräfte mit höherer Bildung mobiler. Dieser Wandel wird im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses noch zunehmen. Damit wird auch die gängige soziale Geringschätzung - das ,jProletariat” der Gastarbeiter am untersten Rang der Hackordnung - in Frage gestellt.

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