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Wichtiges und Wichtiggenommenes

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„Ich liebe es, den fliegenden Tag nach seinem sinnlichen und andeutungsweise auch nach seinem geistigen Leben und Inhalt fest zu halten, weniger zur Erinnerung und zum Wiederlesen als im Sinn der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewußthaltung und bindenden Überwachung...“ So Thomas Mann am „Sonntag den 11. II. 34“ in seinem Tagebuch. Er war eben nicht nur ein immens fleißiger Erzähler, Essayist und Korrespondenzpartner, sondern auch, wie sich jetzt herausstellt, von der Gymnasialzeit an bis ins Todesjahr, ein unermüdlicher Tagebuchschreiber.

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„Ich liebe es, den fliegenden Tag nach seinem sinnlichen und andeutungsweise auch nach seinem geistigen Leben und Inhalt fest zu halten, weniger zur Erinnerung und zum Wiederlesen als im Sinn der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewußthaltung und bindenden Überwachung...“ So Thomas Mann am „Sonntag den 11. II. 34“ in seinem Tagebuch. Er war eben nicht nur ein immens fleißiger Erzähler, Essayist und Korrespondenzpartner, sondern auch, wie sich jetzt herausstellt, von der Gymnasialzeit an bis ins Todesjahr, ein unermüdlicher Tagebuchschreiber.

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Wenn aber der nun erschienene erste Band dieses Teiles seiner Produktion den Titel „Tagebücher 1933-1934“ führt, hat das seine beinahe romanhaft interessanten Ursachen. Wann genau der Halbwüchsige seine Aufzeichnungen begonnen hat, weiß man nicht. Denn wie aus einem Brief vom 17. Februar 1896 (also des noch nicht Einundzwanzigjährigen) hervorgeht, war „es dieser Tage bei mir ganz besonders warm. Ich verbrenne nämlich meine sämmtlichen Tagebücher!“ Warum wohl? Keineswegs weü er solcher Tä-

tigkeit überdrüssig geworden wäre, denn schon am 19. März desselben Jahres heißt es, wieder brieflich, er habe „in den letzten Tagen nichts anderes gethan, als ein wenig an meinem Tagebuch gearbeitet...“ Er verwendete stets, bis zuletzt, dicke, in Wachstuch oder Pappe gebundene Hefte mit unlinierten Seiten im Schulheftformat, die Eintragungen folgten einander mit „täglicher Pünktlichkeit“; nur zuweilen sind einige Tage ausgelassen, aber das Tagebuch wurde selten auf Reisen mitgenommen. Daher auch

nicht auf jene Rundreise nach Amsterdam, Brüssel und Paris, am 11. Februar 1933 von München aus unternommen, um seinen daselbst gehaltenen Wagner-Vortrag zu wiederholen und sich dann in der Schweiz kurz zu erholen, nicht ahnend, daß es eine Fahrt ins Exü sein werde.

Thomas Mann kam im März 1933 zur bitteren Erkenntnis, daß seine Rückkehr nach Deutschland, zumindest vorläufig, untunlich sei, und er geriet in panischen Schrecken, als ihm einfiel, daß die 37 Jahrgänge seiner Tagebücher im „Schließschrank“, in der Diele seines Hauses in der Münchner Poschinger Straße, verblieben waren. Sein Sohn Golo wurde beauftragt, sie aus dem Hause zu bringen und in einen Koffer verpackt „per Eilfracht“ in die Schweiz zu schicken. („Ich rechne mit Deiner Diskretion, daß Du selber diese Hefte nicht liest.“) Es waren „etwa ein halbes Hundert einfacher Wachstuchhefte“. Doch Golo ließ sich vom Haus-chäuffeur (der längst ein Nazi geworden war) hinterhältig überreden, ihm diese Arbeit zu überlassen, und der Mann brachte den Koffer zur Politischen Polizei und nicht zur Bahn. Doch man interessierte sich zürn Glück nicht dafür, gab die Hefte, Wochen später, dem intervenierenden Anwalt Thomas Manns, und so kamen sie schließlich doch über die Grenze. Sie müssen Äußerungen enthalten haben, die der Autor der Nachwelt keinesfalls anvertrauen wollte: Er hat sie im Mai 1945 vernichtet, mit der merkwürdigen Ausnahme von vier Heften aus den Jahren 1918 bis 1921; sie werden erscheinen, sobald die „editorische Vorarbeit“ geleistet ist.

Was ansonsten vorliegt, sind 32 Tagebuchhefte mit 5118 beschriebenen Seiten, beginnend am „Mittwoch den 15. März 33“. Der vorliegende Band reicht bis zum 31. Dezember 1934, enthält außer den 600 Textseiten mehr als 200 Seiten Vorbemerkungen, Anmerkungen und Register. Das Buch stellt sich als ein Selbstbüdnis heraus, von dem man sich bisher keine Vorstellung machte. Nicht, daß es dem offiziellen Thomas-Mann-Bild absolut unähnlich wäre, aber es verrät Charakterzüge, von denen niemand geahnt hätte. Das wußte er, und darum hielt er die Tagebücher selbst vor den nächsten Angehörigen streng geheim, „betroffen -fast ärgerlich“ (Erika Mann), wenn er bei diesen Eintragungen überrascht wurde.

Es sind tatsächlich „Enthüllungen“ einer schier unglaublichen Egozentrik. Mit apodiktischer Unbedingtheit kanzelt er im Selbstgespräch alles ab, was seinem Ansehen oder der momentanen Stimmung nicht genügt, egal, ob es sich um Publikationen und öffentliche Geschehnisse handelt oder um private Begegnungen. Das alles wirkt um so verblüffender, als es nicht flüchtig notiert, sondern im üblich-souveränen Tonfall Thomas Manns vorgetragen wird. Seine Empfindlichkeit war so ungeheuer, daß ein Rüke - beispielsweise - daneben beinahe robust wirken könnte. Durchaus bedeuten diese Schriften auch geistige Selbstbetrachtung; daneben aber wird als psychische und physische Selbstbespie-gelung breit und so gut wie täglich registriert, wie er geschlafen hat (mit oder ohne Schlafmittel), wie seine Stimmungen und Verstimmungen tagsüber wechselten, oft von Stunde zu Stunde, ob er gut und was er ge-

speist hat, wie das Warm wasser im Bad funktioniert und überhaupt wie der Komfort beschaffen ist. Da wird (Februar 1934) etwa „leichte Neigung zu Kopfschmerz“ festgestellt, dann aber zugegeben: „Ich kann zufrieden sein mit meinem Lebensstandard nach der .Wende'. Ich habe mein Bad, mein Au-tomobü, ein schönes Arbeitszimmer, gute Mahlzeiten.“ Und im Dezember 1934 sagt er sich befriedigt: „Immer noch beläuft sich unser Jahres-Etat auf 30 bis 40.000 Franken gegen 50 bis 60 in München.“ Sein - selbstverständlich durch geistige Leistung bewirktes -gesellschaftliches Prestige geht ihm über alles. Jedes kritische Wort erbittert ihn maßlos, auch die Ungeduld der älteren Kinder (Erika, Klaus und Golo), weil er, um den Verkauf seiner Bücher in Deutschland nicht zu gefährden, so lange zu den Zuständen dort schweigt. Ja, er schimpft über „das besonders niedrige geistige Niveau unserer Tischgenossenschaft“

während einer Schiffsreise, bloß weil diese Leute nicht merken, daß sie neben einem Nobelpreisträger sitzen, und er leidet infolgedessen an „Magen-und Nervenverstimmung, Verstok-kung des Unterleibs, Müdigkeit und Mißlaune“, denn: „Ich kann mich gewisser Empfindungen der Beschämung angesichts der herrschenden völligen Unbekanntschaft mit meiner Existenz nicht entschlagen.“

Hier liegt eine „Autobiographie“ vor, authentischer und dadurch packender als jede noch so geistreich konzipierte Biographie es sein könnte. Es ist die schlechthin entwaffnende Ehrlichkeit dieser Blätter, die auch das scheinbar Unverzeihlichste verzeihlich und schließlich sogar verständlich macht.

TAGEBÜCHER 1933-1934. Von Thomas Mann. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, 1977. XXII u. 818 Seiten, öS 447,-.

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