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Zögernde Europäer

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Jeder unbefangene Beobachter der gegenwärtigen britischen Europapolitik wird es kaum für möglich halten, daß es sich hier um dasselbe Land handelt, das noch vor wenigen Jahren so stürmisch, so drängend an die Tore Europas hämmerte, die ihm nur von einem bösen, chauvinistischen französischen General verwehrt wurden. Aber seither ist viel Wasser durch die Themse, die Seine und den Rhein geflossen, das europäische „Paradies“ hat sich den Briten erschlossen, und sie haben sehr rasch das Stadium der Unschuld durchschritten und die Schlange entdeckt — weniger vielleicht im europäischen Eden als im eigenen Haus.

Die Labour-Regierung unter Harald Wilson hat ihr Wahlversprechen eingelöst und wird dem britischen Volk Gelegenheit geben, in einer nationalen, direkten Abstimmung darüber zu entscheiden, ob Großbritannien in der EG bleiben soll oder nicht. Diese „simple“, mit Ja oder Nein zu beantwortende Frage soll dem Volk gegen Ende Juni dieses Jahres gestellt werden, wenn die britischen Neuverhandlungen mit der EG bis dahin beendet sind, wenn die EG-Gipfelkonferenz in Dublin ein befriedigendes Ergebnis erbringt, wenn die Unterhausdebatte über das Referendum-Weißbuch der Regierung rechtzeitig abgeschlossen wird, wenn die Labour-Regierung bis dahin nicht an ihrer akuten europäischen Schizophrenie zugrunde geht, wenn, wenn, wenn...

Die für Großbritannien durchaus wesensfremde Entscheidung zur Durchführung einer Volksbefragung über ein so emotionsbeladenes Thema wie die EG-Mitgliedschaft hat das Volk, die Parlamentarier und die Regierung zu solchen politischen und verfassungsmäßigen Purzelbäumen gezwungen, daß zur Zeit ganz einfach noch nicht abzusehen ist, wie das Land aus diesem Chaos herausfinden wird, in das es durch seine Regierung jetzt gestürzt wurde.

Dies mag zunächst vielleicht hart klingen. Ist nicht eine Volksbefragung der ideale Ausdruck einer faktisch angewandten Demokratie, durch die das politische System dem wahren Volkswillen angepaßt und die Kluft zwischen Regierung und Regierten überbrückt wird? Hier erhebt sich natürlich die heikle Frage der politischen Reife des Volkes, sei es des britischen oder irgendeines anderen. In der Schweiz, einer sehr alten Demokratie, in der Volksbefragungen zur Tagesordnung gehören, hat dieses System zu einem Konservativismus geführt, der einer Stagnation bedenklich nahe kommt — es war dort, wo man den Frauen das grundlegendste aller politischen Rechte, das Wahlrecht, erst im Jahr 1971 verliehen hat. In den USA, wo lokalpolitische Fragen oft durch Volksbefragungen entschieden werden, haben sich die Wähler als notorisch inkonsequent erwiesen, ganz abgesehen von ihrer Apathie, die bei solchen Abstimmungen häufig zu einer Wahlbeteiligung von unter 15 Prozent führt. Und in Frankreich schließlich hat seinerzeit General de Gaulle das Referendum ganz offen als Waffe zur Unterminierung der parteipolitisch gewählten Nationalversammlung benutzt.

Und in Großbritannien? Nehmen wir einmal an, man hätte hier schon im Jahr 1965 eine Volksabstimmung über eine britische EG-Mitgliedschaft durchgeführt. Würde das damals erzielte Ergebnis auch im Jahr 1975 Geltung haben? Und wenn nicht, was dann? Eine neue Volksabstimmung? Wie oft? Regelmäßig alle sechs Monate — rein in die EG, raus aus der EG?

Die Problematik ist offensichtlich —man kann ganz einfach keine effektive, langfristige Politik auf der Basis flüchtiger Volkslaunen machen. Premierminister Wilson hat die Zusicherung abgegeben, seine Regierung werde sich dem Ergebnis der Volksbefragung in jedem Fall fügen

—gleichzeitig aber heißt es im diesbezüglichen Weißbuch, daß die Entscheidung über den britischen Verbleib in der EG verfassungsmäßig natürlich nur vom britischen Parlament getroffen werden kann. Um diesem grotesken Dilemma vielleicht doch begegnen zu können, wurde dem Unterhaus soeben ein neuer Antrag vorgelegt, unterzeichnet von 40 prominenten Politikern aller Parteien, darunter dem früheren konservativen Innenminister Robert Carr und dem ehemaligen Labour-Außenminister Michael Stewart. Darin wird beantragt, der britischen Wählerschaft solle bei dem Referendum auch noch die zusätzliche Frage gestellt werden, ob sie bereit sei, die endgültige Entscheidung über die EG-Mitgliedschaft dem Parlament zu überlassen. Der immanente Widerspruch dieser doppelten Fragestellung liegt auf der Hand, zeigt aber einmal mehr, in welche verzweifelte Sackgasse die Idee der Volksbefragung geführt hat.

Nicht fehlen bei alledem dürfen natürlich die immer wieder diskreditierten und doch eifrig weiterschaffenden Meinungsforschungsinstitute. Zwei davon haben bisher ihren Senf zur EG-Diskussion abgegeben und bei Umfragen festgestellt, daß rund 52 Prozent aller Befragten für den Verbleib in der EG waren — wenn auch nicht mit allzu großer Begeisterung. Intuitiv, so heißt es im Bericht des einen Instituts, ist die Mehrheit des Volkes nicht gerade europafreundlich, aber die meisten der Befragten waren sich der zwingenden Notwendigkeit der britischen EG-Mitgliedschaft voll bewußt. Ebenfalls wurde bei diesen Umfragen eine überraschende Apathie des Volkes festgestellt, und die Institute rechnen mit einer Abstimmungsbeteiligung, die weit unter derjenigen allgemeiner Wahlen liegen dürfte.

Alle Problematik, allen Widersprüchen und Zweifeln zum Trotz rechnet in Großbritannien niemand ernstlich damit, daß das Land wirklich Europa den Rücken kehren wird. An den Wunden aber, die diese Auseinandersetzung dem demokratischen, politischen und sozialen Gefüge Großbritanniens schon zugefügt hat und noch weiter zufügen wird, an diesen Wunden wird das Land wohl noch lange zu leiden haben.

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