Armer Homo calculator

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Dreizehn Randbemerkungen zur Christlichen Soziallehre. Eine Polemik

Erbitte Gottes Segen für deine Arbeit, aber erwarte nicht, dass er sie auch noch tut." Das ist die volkstümliche Ausgabe eines christlichen Weltverständnisses, das zur Verantwortung auffordert. Verantwortung heißt Antwort geben auf Fragen, die gestellt sind. Nicht alles ist fragwürdig. Wir wählen aus, was der Frage würdig erscheint.

Die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums im Hinblick auf das Wesen des Menschen zu beantworten ist die Aufgabe der christlichen Soziallehre.

2.

Christliche Soziallehre ist praktische Philosophie. Es geht um ein "gelungenes Leben" in einer "guten Gesellschaft". Die christliche Soziallehre hat eine individuelle und eine soziale Dimension. Gerechtigkeit ist Tugend und Sozialprinzip.

"Was hast du dem Geringsten meiner Brüder und Schwestern getan?" ist die alles entscheidende Gerichtsfrage. Du wirst gefragt. Keinem Kollektiv, keinem abstrakten Adressaten wird die Gerechtigkeitsfrage gestellt. Kein Titel, kein Reichtum, Prestige und Glanz erspart uns das Urteil. Gefragt wird nach Taten, nicht nach Theorien. Das Kriterium der Taten sind die anderen.

"Rette deine Seele" als Empfehlung zur autarken Seelenverschönerung (sozusagen in Heimarbeit) ist eine Häresie. Es geht immer mit und für andere.

3.

Wer ist der andere? Er ist ein Mensch. Was ist der Mensch? Gottes Kind! Deshalb sind alle Menschen Geschwister. Diese doppelte Einsicht - Gotteskindschaft und Geschwisterlichkeit - ist das stärkste Fundament der Würde des Menschen und der beständigste Antrieb für die Solidarität.

4.

Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst transzendiert: vertikal zu Gott und horizontal zu den Menschen. Der Mensch ist das Wesen, das über andere zu sich selbst kommt: über Gott und den Nächsten. Ohne Du kein Ich. Es ist also nicht so, dass der Mensch erst selbst wird und sich danach dem anderen zuwendet; er wird nur als soziales Wesen ein individuelles und nur als individuelles ein soziales. Den Satz aus dem jüngsten Sozialwort der deutschen Bischöfe "Jeder ist für die Gestaltung seines Lebens zunächst selbst verantwortlich" halte ich für ein neoliberales Missverständnis der christlichen Soziallehre. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir in Abhängigkeiten.

In der Integration der beiden Seiten seines Wesens zur Person liegt die spezifische Differenz des christlichen Menschenbildes zu liberalistischen und sozialistischen Vereinseitigungen.

5.

Der Irrtum des Sozialismus und des Liberalismus ist, dass sie Teilwahrheiten zu ganzen Wahrheiten erklärt haben: der Liberalismus die individuelle Natur, der Sozialismus die soziale Natur des Menschen. Der Teufel ist nicht dumm - in jeder wirkmächtigen Häresie ist ein Körnchen Wahrheit enthalten. Der diabolische Trick besteht in der Vertauschung einer Teilwahrheit mit der ganzen.

6.

Kapitalismus und Sozialismus hatten über ein Jahrhundert Zeit zu beweisen, was sie können. Sie sind beide gescheitert. Die rote Fahne des Sozialismus ist getränkt vom Blut der Unterdrückten und Ermordeten. Der Kapitalismus hinterlässt eine breite Schleifspur von Elend und schreiender Ungerechtigkeit.

7.

Die reichsten 358 Milliardäre der Welt besitzen ein Vermögen, das größer ist als das Einkommen der Hälfte der Weltbevölkerung. 80 Prozent der Weltbevölkerung besitzen knappe 20 Prozent der Erdengüter, und 20 Prozent haben 80 Prozent des Reichtums beschlagnahmt. Das ist Diebstahl. 250 Millionen Kinder sind in den gleichen Regionen zur Arbeit gezwungen, in denen 900 Millionen Erwachsene arbeitslos sind. Das ist politische Schizophrenie.

1970 waren die 15 reichsten Länder 40-mal so reich wie die 15 ärmsten der Erde. Heute beträgt der Abstand das 170-fache. Das ist die Bestätigung einer marxistischen Diagnose: Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer.

Glaubt jemand, dieser Zustand der Welt könnte sich als Dauerzustand etablieren? Glaubt jemand, unter diesen Bedingungen sei Friede auf Erden möglich?

8.

Hätte ich einen Papagei, ich würde ihn drei Worte lehren; damit könnte er das ganze Programm des Neoliberalismus verkünden: Wettbewerb, Kostensenkung, Deregulierung. Wettbewerb ist ein nützliches Instrument des Leistungsanreizes, und der Markt die klügste Institution der Bedürfnisermittlung. Marktwirtschaft ist zudem eine Form freiheitssichernder Machtverteilung. Wettbewerb und Markt sind jedoch keine ausreichenden Bedingungen einer guten Gesellschaft. Der Markt regelt nicht alles - und auch dort, wo er regelt, bedarf er der Ordnung.

Der Mensch ist nicht lediglich homo oeconomicus. Selbst Adam Smith, der Erzvater des Kapitalismus, wusste, dass Wettbewerb gezügelt werden muss. Er vertraute darauf, dass die angeborene Fähigkeit zum Mitleid dem Erwerbstrieb Zügel anlege. Wer legt dem Wettbewerb in einer globalen Wirtschaft Zügel an? Genügt zur Zähmung des Wettbewerbs die Barmherzigkeit? So viel Verbandszeug kann Barmherzigkeit nicht liefern wie ungerechter Welthandel Wunden schlägt. Genügt der Gerechtigkeit das Äquivalenzprinzip? Die besten Anlagen des Menschen sind gar nicht auf Äquivalenz angelegt. Die Liebe ist unabhängig von berechenbarer Gegenleistung. Vertrauen ist ein Vorschuss, der keine letzten Sicherheiten kennt. Risikobereitschaft ist mehr auf Wagemut als auf erwartete Belohnung angewiesen. Kolumbus hätte nie Amerika entdeckt, wenn er nur ein Kalkulator eines möglichen Nutzens gewesen wäre.

Der homo calculator ist eine Karikatur des Menschen, weil kein Mensch es aushält, ständig seinen Vorteil auszurechnen. Freiheit als Optionsmaximierung ist eine idiotische Freiheit. Nur der Idiot kennt keine Bindungen.

9.

Arbeit "ist der unmittelbare Ausfluss der menschlichen Natur und deshalb wertvoller als alle Reichtümer an äußeren Gütern, denen ihrer Natur nach nur der Wert eines Mittels zukommt", heißt es in der Enzyklika "Mater et magistra". Johannes Paul II. hat diesen Vorrang der Arbeit in "Laborem exercens" unmissverständlich bestätigt.

Der Arbeitnehmer ist nicht nur Kostenfaktor. Wenn der Billigste auf dem Weltmarkt gewinnt, wird Ausbeutung zur globalen Erfolgsbedingung. Bergwerke in China ohne Arbeitsschutz sind billiger. Kinderarbeit in Asien, Afrika und Lateinamerika ist billiger als Erwachsenenarbeit in Europa. Globale Organisationen - wie beispielsweise die ilo - müssen globale Sozialstandards durchsetzen.

Der Arbeitnehmer ist nicht nur Arbeitskraft, die ausgewechselt werden kann wie Ersatzteile. Wenn Gewinne in der Regel steigen, je mehr Arbeitnehmer entlassen werden, dann ist diese Unternehmensordnung krank.

Arbeitnehmer werden zu Job-Nomaden. Der flexible Arbeitnehmer kennt keine Loyalitäten. Er ist überall und jederzeit einsetzbar. Nur nichts Dauerhaftes. Alles wird vorübergehend: Arbeit, Ehe, Mitgliedschaft etc.

Wir schöpfen in Deutschland mit Hilfe der Green Card die Qualifizierten der armen Länder ab. Wir lassen auswärts ausbilden und importieren die qualifizierten Informatiker aus Indien. Was ist der qualitative Unterschied zum alten Kolonialismus? Damals wurden die Rohstoffe ausgebeutet, heute ist es das "Humankapital". Auf dem Sklavenmarkt war ein gesundes Gebiss Voraussetzung für den Kauf. Jetzt reicht ein Diplom.

10.

95 Prozent der Dollarbillionen, die täglich auf der globalen Datenautobahn den Besitzer wechseln, haben mit realem Warenverkehr und Produktion nichts mehr zu tun. Der Finanztransfer ist virtueller Natur und dient spekulativen Zwecken. Unternehmen werden zerlegt, fusioniert, ge- und verkauft, ohne dass dies irgendeinen Zusammenhang mit Wertschöpfung und Arbeit hat. Wenn der Börsenwert unter den Bilanzwert sinkt, droht Übernahme mit anschließendem Verkauf. Das ist ein virtuelles Verfahren, das zu realem Profit führt.

Die Produktzyklen werden immer kürzer. Japanische Elektrogeräte sind im Durchschnitt drei Monate auf dem Markt, bevor die nächste Veränderung folgt. Absatzzeiten werden kürzer als Entwicklungszeiten. Mieten wird rentabler als besitzen. Der Turbo-Kapitalismus schafft das Eigentum ab und vernichtet sich selbst.

Eigentum in Arbeitnehmerhand könnte dem vagabundierenden Kapital wieder Bodenhaftung und dem Eigentum Legitimation durch Arbeit verschaffen. Denn außer der Besitzergreifung herrenlosen Gutes kennt die christliche Soziallehre nur die Arbeit als letzte Rechtfertigung des Eigentums.

11.

Wirtschaftsordnung ist nicht ohne Sozialordnung möglich. Die Sozialpolitik ist nicht der Lazarettwagen, der hinter der Wirtschaftsentwicklung herfährt und die Fußkranken auflädt. Wohin eine Wirtschaftsordnung führt, die auf Rechts- und Sozialstaat verzichtet, kann in Moskau studiert werden. Der von den Chicago-Boys den russischen Reformern versprochene Wohlstand kann in Zypern und an der Riviera besichtigt werden, wohin die Russenmafia ihren Reichtum exportierte.

12.

Unter den Bedingungen einer rasenden Beschleunigung, die sich als Fortschritt tarnt, wird Bewahren zur Lebensrettung der Humanität. Progressiv erweist sich als konservativ.

Die konservativen Aufgaben der christlichen Sozialbewegung sind:

* den Menschen bewahren vor einem genmanipulierten Homunkulus;

* Arbeitnehmer davor bewahren, zu Job-Hoppern zu degenerieren;

* Arbeit und Eigentum bewahren vor einer Spekulationswirtschaft, die sich von Wertschöpfung abgekoppelt hat;

* Unternehmen davor bewahren, eine Filiale der Börse zu werden;

* die Schöpfung bewahren vor Raubbau;

* den Menschen bewahren vor der grenzenlosen Machbarkeit.

13.

Nie war die Sehnsucht nach einer Ordnung jenseits von Kapitalismus und Sozialismus größer als jetzt. Nie waren die Chancen der christlichen Soziallehre größer. Das ist der Kairos: Jetzt oder nie. Wird die christliche Sozialbewegung ihre Stunde nutzen? Darüber werden spätere Generationen berichten.

Ist der Mensch nur noch ein leicht auflösbarer Knotenpunkt im virtuellen Netzwerk? Hat alles nur noch einen Preis? Die Würde des Menschen als Abbild Gottes und Krone der Schöpfung ist unbezahlbar.

Norbert Blüm war von 1982 bis 1998 Arbeits- und Sozialminister der deutschen Bundesregierung unter Helmut Kohl. Der Text gibt die Rede wieder, die Blüm anlässlich der Entgegennahme des Großen Leopold Kunschak-Preises am 11. März 2005 in Wien gehalten hat.

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