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Die Kehrseite der Medaille
Tirol ist kein Industrieland. Der Industrialisierungsgrad hat sich zwar in den letzten zwei Jahrzehnten bedeutend erhöht, aber auch heute lebt nur knapp ein Fünftel der Tiroler Bevölkerung von der Industrie, die zudem überwiegend Verarbeitungsindustrie ist. Aus historischen und natürlichen Gründen-, liegt, w*rtschaftsstrukturell gesehen, das Schwergewicht auf der Landwirtschaft und der Fremdenverkehrswirtschaft. Die LandIm Jahre 1962 übernachteten In Tirol fünfmal soviel Fremde wie 1953; inzwischen sind die Ubernachtungszahlen welter gestiegen. In den letzten Jahren entfielen ungefähr 30“/o aller Fremdenübernaohtungen, die in Österreich gezählt wurden, und rund 40°/o aller Ausländerübernachtungen auf Tirol. Das bedeutet: Etwa 400/o der österreichischen Deviseneinnahmen aus dem Fremdenverkehr entstammen dem Tiroler Fremdenverkehr. Zu dieser Entwicklung des Tiroler Fremdenverkehrs haben hauptsächlich vier Faktoren beigetragen: die Naturschönheiten Tirols, die günstigen Bedingungen für den Wintersport, die es bietet, seine verkehrsgeographisch vorteilhafte Lage und vor allem die Entfaltung des Massentourismus, die „Reisewelle“, die Jahr für Jahr Millionen Menschen in die Ferne zieht
Will man die wirtschaftliche Bedeutung des Tiroler Fremdenverkehrs ermessen, muß man auch seine Breiten- und Tiefenwirkung beachten. Der Fremdenverkehr stimuliert nicht nur den Großhandel und das Baugewerbe, sondern auch viele Einzelihandels-zweige: die Touristen kaufen z. B. Ansichtskarten, Sportartikel und auch die leider oft geschmacklosen Reiseandenken. Nicht zuletzt gehört die Landwirtschaft zu den Nutznießern des Fremdenverkehrs. Die ins Land kommenden Touristen verzehren Landesprodukte, wie Milch, Käse, Butter und Fleisch; darüber hinaus verschaffen sie der landwirtschaftlichen Bevölkerung willkommene Nebeneinkommen. Mancher Hof steht nur deshalb so stattlich da, weil unter seinem Dach ein paar Fremdenzimmer Platz gefunden haben; und manches Bergbauerngütl ist noch nicht aufgegeben worden, weil zwei, drei Betten an Fremde vermietet werden können, oder das eine oder andere Familienmitglied in der Saison einem Nebenerwerb nachgeht, sei es als Bergführer, Skilehrer oder Pisten-wart, sei es als Hilfskraft im Gastgewerbe, im Seilbahn- oder Liftbetrieb.
Dieses erfreuliche Bild der wirtschaftlichen Situation Tirols ist nicht ungetrübt. Es gibt ein paar strukturelle Schwächen, die von der bisher anhaltenden Expansion des Fremdenverkehrs weitgehend verdeckt werden, die sich aber unweigerlich bemerkbar machen würden, wenn die „Reisewelle“ einmal abebben sollte, oder wenn die Verkehrsentwicklung qualitativ und preislich konkurrenzfähige Länder in die Reichweite des Massentourismus rückte, die bisher noch zu weit entfernt sind. Einige dieser Schwächen sollen im folgenden aufgezeigt werden.
Nicht ganz unproblematisch ist der Umstand, daß gut 70<Vo der Fremdenübernachtungen auf Touristen aus der Bundesrepublik Deutschland entfallen; doch sollte diese Tatsache in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden: Erstens ist ein wirtschaftlicher Rückschlag in der Bundesrepublik Deutschland beim heutigen Stand des wirtschaftpolitischen Wissens und Könnens so wenig wahrscheinlich, daß die große Abhängigkeit der Tiroler Fremdenverkehrswirtsdhaft von der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung praktisch unbedenklich ist: zweitens reicht die wirtschaftliche Ausstrahlungskraft der Bundesrepublik heute so weit, daß eine bessere Streuung des Ausländerfremdenverkehrs im Falle einer deutschen Rezession der Tiroler Fremdenverkehrswirtschaft sicherlich wenig nützen würde.
Ein schwerer wiegendes Problem ist die disproportionale Entwicklung von Bettenzahl und Küchenkapaaität, die sich in Tirol zeigt: die Essensplätze an den Gasthaustischen nehmen nicht im gleichen Maße zu wie die Fremdenbetten. Als Grund dafür wird angegeben, daß der Küchenbetrieb zuwenig einbringe. Diese Erklärung bedürfte einer näheren Untersuchung. Das gleiche gilt für die Frage, warum die verfügbaren Investitionsmittel vor allem dazu verwendet werden, die Zahl der Betten zu vermehren, d. h. warum nur relativ wenig Kapital für die komfortablere Ausstattung von Beherbergungsbetrieben eingesetzt wird.
Ein Problem, dessen Lösung von Jahr zu Jahr dringender wird, ist schließlich das Straßenproblem. Die Hauptdurchgangsstraßen Tirols sind zumindest in den Sommermonaten auf weite Strecken dem Verkehr nicht mehr gewachsen. Die Bundesstraße Nr. 1 befindet sich zwischen Kufstein und Innsbruck groß-teils in einem desolaten Zustand. Daß die Autobahn Kufstein—Innsbruck nicht schon vor Jahren in Angriff genommen wurde, ist eine Unterlassungssünde ersten Ranges. Denn die Tiroler Durchgangsstraßen werden nicht nur von den Touristen aus den nördlich gelegenen Ländern auf ihrer Fahrt über den Brenner nach Süden benützt; diese Straßen, auf denen im Sommer die Autoschlangen kriechen und holpern, sind auch die Lebensadern der Tiroler Wirtschaft im allgemeinen und der Tiroler Fremdenverkehrswirtschaft im besonderen! Soll Tirol seine Stellung als Fremdenverkehrsland zum Nutzen der ganzen österreichischen Wirtsdhaft halten, muß man ihm unverzüglich — heute und nicht erst morgen — bessere Straßen geben!
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