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Die zwei Gefahren im Hintergrund

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Wir meinen, daß christlicher Glaube die Situation ernstnehmen muß, in der er zu leben und sich zu bewähren hat. Angesichts des faktischen Verlustes eines eindeutig christlich geprägten Bildes unserer Gesellschaft stellt sich für den Glauben keineswegs die Aufgabe, eine bestimmte, aus den vergangenen Zeiten einer wirklichen oder vermeintlichen „christlichen Gesellschaft“ stammende Wertehierarchie möglichst zu konservieren und nach Tunlichkeit gerade noch wieder durchzusetzen, sondern vielmehr die einer verantwortlichen Beteiligung an der Suche einer für alle verbindlichen Rechtsordnung. Nur so wird es möglich sein, die uns durch das Evangelium vermittelten Einsichten betreffs der Notwendigkeiten einer menschlichen Gemeinschaft in das Gespräch, Denken und Beschließen der gewissenhaften Kräfte unserer pluralistischen Gesellschaft, mit denen wir es dabei zu tun haben, miteinzubringen. Wenn heute Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein unserer Bevölkerung durch keine eindeutige Metaphysik näher bestimmt ist, dann kommt der Suche nach richtigem Recht, das heißt aber: der Aufgabe, das für unsere Gegenwart Nötige hinsichtlich des Rechtes neu zu ermitteln, eine außerordentliche Bedeutung zu.

Wenn nun die Rechtsverantwortlichkeit der Bürger nicht mehr in einem eindeutigen und allbekannten Wertekatalog zu verankern ist, dann bedeutet der Versuch des Entwurfes, das Schuldproblem des Strafrechtes iri der Rechtsverantwortlichkeit des Täters zu verankern, einen mutigen, wenn auch nicht ungefährlichen Schritt. Wie gefährlich das sein kann, kommt sofort in zweifacher Gestalt zum Vorschein. In den „Erläuterungen“ des Entwurfes geistert das Modell eines „maßgerechten Menschen“, der gleichsam zum Maßstab aller Schuld wird. Das soll zwar nur als Abkürzung dienen und steht für den „mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen“; aber eben an dieser Abkürzungsmöglichkeit wird schlagartig klar, wie solch ein Modell zu einer praktikabel gehandhabten und zu handhabenden Maßgröße werden kann, die je nach sozialpolitischer Sinngebung und Einstellung verwendbar ist.

Damit ist auch schon die zweite Gefahrengestalt genannt: Die gesellschaftlich bestimmte Funktionsgerechtigkeit des „maßgerechten Menschen“ vermag sozusagen eine neue Wertehierarchie abzugeben. Das unausgesprochene Motto „Recht ist, was der Gesellschaft nützt“ zieht sich lautlos, aber unverkennbar durch die „Erläuterungen“ und ist in manchen Gesetzesbestimmungen mit Händen zu greifen. Anders ausgedrückt: An die Stelle des alten Naturrechtes droht ein neues zu treten, das einseitig anthropologisch und soziologisch bestimmt erscheint. Aber dennoch ist zu sagen: diese Gefahr muß sich nicht realisieren, sie kann aufgefangen und durch ein erneuertes Rechtsgefühl verwandelt werden, soferne die geistigen und sittlichen Kräfte in unserem Volke um eine Sinngebung des Lebens ringen. Wenn Rechtstat und Täter hinkünftig an dem „mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen“ gemessen werden sollen, so scheint uns das eine nüchterne und in die Zukunft weisende Devise zu sein, die überdies einem zukunftsoffenen Christentum gute Chancen eröffnet, seiner ihm eigenen Uberzeugung von Sinn und Aufgabe des Menschen in der Gesellschaft hinsichtlich der Rechtssuche und Rechtsfindung zum Durchbruch zu verhelfen.

Es soll nicht verschwiegen werden, daß unser Votum mehr der „Geschichtlichkeit“ des Rechtes zugewandt ist als einem vielfach mit dem christlichen Rechtsdenken identischen bloßen Konservativismus, dessen Hauptanliegen es ist, möglichst viel beim alten zu belassen. Wenn wir sowohl in Fragen der Setzung des Rechtes als auch im Blick auf die praktische Rechtsfindung und Rechtsprechung für eine möglichst situationsgerechte Erfassung des heute und morgen Nötigen eintreten, so bedeutet das keinen Verzicht auf grundsätzliche Einsichten und deren Vertretung.

So haben wir ausdrücklich darauf verwiesen, daß die Bestimmungen des Entwurfes betreffs der Strafbemessung ebensowenig befriedigen wie die dazu angebotenen Erläuterungen, weil hiebei ungenannt bleibende Auffassungen einer deterministischen Anthropologie mit ins Spiel gebracht werden.

Ebenso befremdet beispielsweise beim Paragraphen, der von der Abtreibung handelt, ein Wortlaut, der einer sozialen, ethischen oder auch eugenischen Indikation Tor und Tür öffnen könnte, obwohl das in den Erläuterungen entrüstet zurückgewiesen wird. In solchen Fällen kann sich christliches Rechtsbewußtsein nicht durch vage Bestimmungen beruhigen lassen, weil es in seiner Gewissensverantwortung auch einer pluralistischen Gesellschaft zumuten muß, daß auch diese über die Unantastbarkeit des geschaffenen Lebens wacht.

In anderen Fällen ist unsere evangelische Stellungnahme zu einer positiven Beurteilung des neu vorgelegten Gesetzestextes gekommen, wie etwa in der heißumstrittenen Frage der Strafbarkeit der Homosexualität. Die Argumente für die Straffreiheit der weiblichen Homosexualität überzeugen genügend; in bezug auf die männliche Homosexualität unter Erwachsenen muß zwar ausdrücklich vermerkt werden, daß den Erläuterungen eine verharmlosende Tendenz innewohnt, und zwar gerade im Blick auf die sozialen Schäden (Cliquenwesen), die sich in Ländern zeigen, die bereits Erfahrung mit straffreier Homosexualität besitzen. Dennoch meinen wir angesichts des Umstandes, daß der Entwurf die Verführung Jugendlicher ernsthaft unter Strafe beläßt und auch sonst alle öffentliche Propaganda strafrechtlich verfolgt, der Straffreiheit auch der männlichen Homosexuellen unter Erwachsenen zustimmen zu sollen. Die Homosexualität ist zweifellos, theologisch beurteilt, Sünde und Unrecht, aber die Strafverfolgung von Menschen um eines ethischen Grundsatzes willen ist gerade von einer Theologie des Rechtes her nicht zu begründen. Das Strafrecht dient der Durchsetzung einer für die menschliche Gemeinschaft lebensnotwendigen Rechtsordnung. Wird diese als solche nicht angetastet, gibt es keinen theologischen Grund, die Strafjustiz auf den Plan zu rufen.

Diese von unserem Verständnis des Evangeliums bestimmte Erkenntnis führt uns zu einem Vorschlag, der es verdient, hervorgehoben zu werden. Wir fordern die ersatzlose Streichung des sogenannten „Gotteslästerungsparagraphen“ (Entwurf 222) und des über „Herabwürdigung religiöser Lehren“ ( 223). Wir meinen, daß der 224 „Störung einer Religionsübung“ mit einer Reihe ähnlicher Bestimmungen genügt, um Ehre und Integrität kirchlicher Handlungen vor Störung zu beschützen. Hier geht es darum, mit strafrechtlichen Maßnahmen den „religiösen Frieden“ zu sichern und damit jeder Glaubensgemeinschaft die ihr zukommende Freiheit der Religionsübung zu verleihen. Wer eine religiöse Feier stört, vergeht sich am Recht der gesamten Bevölkerung, der es freistehen muß, gemäß der Gewissensüberzeugung der einzelnen Bürger die jeweils gewählte Religionsfeier zu vollziehen. Hingegen sind die beiden anderen Paragraphen Relikte aus einer Zeit, in der Recht und Macht der Gesellschaft zum Schutze bestimmter Glaubensüberzeugungen aufgeboten wurden.

Die christliche Kirche müßte heute den Mut haben, ihr Fremdsein in der pluralistischen Gesellschaft zu bejahen. Sosehr sie das Recht hat, auch von dieser Gesellschaft den Schutz ihres Lebens und Handelns zu fordern, sosehr muß sie auch das Recht einzelner Bürger und ganzer Gruppen respektieren, ihrerseits Uberzeugungen zu hegen und auch öffentlich auszusprechen, die ihr selbst als Gotteslästerung oder als Herabwürdigung ihrer Lehren gelten. Atheistische oder auch antichristliche Propaganda, soferne sie nicht den religiösen Frieden durch Störung von Gottesdiensten und Kulthandlungen und ähnlicher Veranstaltungen bedroht, unter die Strafsanktion einer pluralistischen Gesellschaft zu stellen kann dem Lebensstil einer Kirche nicht entsprechen, die den Gekreuzigten als ihren Herrn bekennt. Sie wird daher auch dem wohlmeinenden Gesetzgeber den Rat geben, an dieser Stelle konsequent zu bleiben und nur das als Schutzobjekt des Strafrechtes anzuerkennen, was eindeutig als gemeinsames Rechtsgut der Gesellschaft angesehen werden kann. Dazu gehört allerdings der religiöse Friede und die Freiheit zur Religionsübung, nicht aber Gott selbst und die Theologie im weiteren Sinne.

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