Poetischer Blick in die Tiefe des Meeres

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Ulrike Draesner hat sich gut auf ihren neuen Roman „Kanalschwimmer“ vorbereitet, die Idee dazu entstand bereits vor zwölf Jahren. Das Ergebnis: Malerei mit Worten.

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Ulrike Draesner hat sich gut auf ihren neuen Roman „Kanalschwimmer“ vorbereitet, die Idee dazu entstand bereits vor zwölf Jahren. Das Ergebnis: Malerei mit Worten.

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Wer macht so etwas? Und vor allem warum? Den eiskalten Ärmelkanal an seiner kürzesten Distanz von Dover nach Calais zu durchschwimmen, ohne Neoprenanzug, inmitten von Treibgut, Schiffen, Haien, gefährdet durch die starken Strömungen. Tatsächlich wird diese Meerenge jährlich von einigen Menschen im Wasser durchquert. Sogar Staffeln finden mittlerweile statt. Jedenfalls hat die deutsche Autorin Ulrike Draesner für ihren neuen Roman „ Kanalschwimmer“ ausführlich und bis ins kleinste Detail vor Ort recherchiert. Die Idee zu diesem Buch beschäftigt sie schon seit zwölf Jahren. Ursprünglich habe sie, so Draesner, eigentlich vorgehabt, vier Prosatexte zu den vier Elementen zu schreiben. Die Auseinandersetzung mit dem Wasser ist also schon lange da. Auf den Roman nimmt sie sogar in ihren 2018 erschienenen Frankfurter Poetikvorlesungen „Grammatik der Gespenster“ Bezug, wenn sie etwa Schreibphänomene zu erklären versucht: „Ich recherchierte Kanalrekorde, Strömungsverhältnisse, Startbedingungen, überlegte – und fand keine Form. Nur eines war klar: Die Hauptgeschichte fand im Wasser statt. Wurde durch Wasser geprägt.“

Der Körper und seine Nöte

Draesners Protagonist Charles ist 62 Jahre alt. Ein Wissenschaftler, dem kurz vor seiner Pensionierung der familiäre Boden unter seinen Füßen weggezogen wird, weil ihm seine Frau Maude mitteilt, dass künftig – nach fast schon vierzig Ehejahren – sein „alter englischer Freund“ Silas bei ihnen einziehen wird. Charles flieht vor der Entscheidung – wie ein „Eheanfänger“, oder besser wie ein „Krisenanfänger“ – und versucht, sich während der Verwirklichung seines Lebenstraums über sich selbst und seine Situation klar zu werden. Er lässt schließlich seine Überquerung melden, denn er will durch den „Ärmel, die Brühe“, den „Dreck“. Charles hat vor, in England zu starten und in Frankreich an Land zu gehen, darauf hat er hintrainiert,
ja jahrelang hingearbeitet. Der Kanal als „physiologische Tröstung“, „als absurde Verzauberung“? Und so startet er tatsächlich, begleitet von einem Boot, „beaufsichtigt, abgesichert, vorbereitet, alles Menschenmögliche war getan, man wurde“ mit einer Stange „gefüttert, unterstützt. Es blieben: der Körper und seine Nöte. Das Atmen, das Ziehen der Tiefe, die Drift.“

Draesner lässt Charles im Wasser unterschiedliche Facetten seiner eigenen Geschichte bewusst werden, indem er sein Leben zurückspult und aus der Distanz betrachtet.

Das gefährliche und anstrengende Schwimmen durch den Kanal spannt sich als breite thematische Klammer über den Roman. Es gerät zum stets präsenten Angelpunkt und zeigt Charles unwillkürlich seine körperlichen Grenzen auf, auch wenn mit dieser existentiellen Erfahrung in der herausfordernden Konfrontation mit dem Element des Wassers eine zweite Ebene verbunden ist, nämlich eine intensive gedankliche Reise in die Vergangenheit, weit zurück in die 1970er Jahre, in der Silas und Charles die beiden Schwestern Maude – sie wird später seine Frau – und Abigail kennengelernt haben. Aus den Tiefen der Erinnerung holt Charles plötzlich den ersten Sommer auf Sylt. Das neu gewonnene Freiheitsgefühl, die in der Luft liegende Aufbruchsstimmung, verbunden mit sexueller Freizügigkeit, die definitive Ablehnung einer traditionellen „Ehe-Haus-Kind“-Mentalität prägen die ersten Beziehungen der jungen Männer. „Chemie, Forschung, Promotion. Geringes Gehalt, große Beweglichkeit.“ Die Tage riechen „nach Zukunft“: „Sie lebten um die Wette. Aber miteinander. So erinnerte er sich. Es war eine Erinnerung an die eigene Unsterblichkeit.“ Das sind die Wegmarken, die für Charles zunächst entscheidend sind, bis die Welt zu rutschen beginnt. Nach Abigails Unfall bekommt das Leben einen spürbaren Knick: „Was geschehen war, griff nach jedem von ihnen auf seine Art.“ Neue Konstellationen bilden sich, das Leben erhält andere Tönungen, neue Schattierungen.

Lebensreflexion im Wasser

Draesner lässt Charles im Wasser unterschiedliche Facetten seiner eigenen Geschichte bewusst werden, indem er sein Leben zurückspult und aus der Distanz betrachtet. Zugleich hält sie aber auch das Ende der Geschichte geschickt in Schwebe. Angesichts der körperlichen Anstrengung, mit der Charles zu kämpfen hat, fließen verschiedene Handlungsmöglichkeiten ineinander. Leerstellen tun sich auf, neue Optionen der Plotentwicklung ergeben sich. Draesner malt mit Worten und bedient sich mitunter eines großartigen poetischen Blicks in die Tiefe des Meeres, seiner Gefahren und seiner wilden Schönheit, die die Wasserwelt samt dem sich darin spiegelnden Wolkenmeer zum Glänzen bringt: „Über ihm: eine Farbbildung, durchrast von fallender, Licht genannter Halbmaterie, gezeichnet von sich horizontal aufknüppelnden, aneinander verschmelzenden Eisfeldern, die sich langsam den dunstigen Hieben des Lichts nach unten anschlossen.“ Der Schwimmrhythmus aktiviert die Lebensreflexion, weil die konstante Bewegung den Takt draußen einbrechen lässt, um innezuhalten – in der Intention, das eigene Leben neu aufzustellen. Der Schritt, auf diesem Weg Klarheit zu gewinnen, ist tatsächlich außergewöhnlich. Draesner gelingt es, die Spannung bis zum Schluss zu halten. Was bleibt, ist das Rauschen, die Kraft der Sonne, das Atmen: „DO YOU HEAR ME?“.

Kanalschwimmer
Literatur

Kanalschwimmer

Roman von Ulrike Draesner

Mare 2019

174 S.,

geb., € 20,60

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