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Besuch bei einem Schweiger

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Nach den Erfahrungen der ausländischen Korrespondenten ist in Paris nichts schwieriger, als Informationen über die Vorgänge in den verschiedenen Ministerien zu erhalten. Die Diskretion wird hier rigoros gehandhabt, und in der Person von Verteidigungsminister Messmer erfährt sie geradezu ihre Verkörperung. Seine radikale Abneigung gegen die Versuchung, etwas an die große Glocke zu hängen, scheint jede Abstammung von jenen elsässischen Mesnern zu dementieren, zu deren Kirchendienerpflichten doch auch das Einläuten der Messe gehörte. Das Mißtrauen gegenüber der Öffentlichkeit ist im französischen Verteidigungsministerium jedenfalls so ausgeprägt, daß man nach den ersten Kontakten meinen könnte, sein Informationsdienst habe es sich zur Aufgabe gemacht, neue Formen der militärischen Abschreckung zu entwickeln. Doch entdeckt man später erfreulicherweise auch seine charmanten und hilfsbereiten Seiten.

„Hier ist die Pflicht!“

Nun hieße es gewiß, Wasser in den Rhein tragen, wollte man nach der „Spiegel“-Affäre auf den besonders schwierigen Aufgabenkreis eines Verteidigungsministers aufmerksam machen. Wie die Bundeswehr hat auch die französische Armee delikate Öffentlichkeitsarbeit zu verrichten. Sie steht nicht nur in einer Umwandlung von gewaltigem Ausmaße, es gilt auch, einen gefährlichen Riß zu kitten, den die dramatischen Ereignisse der letzten Jahre zwischen Nation und Armee aufbrechen ließen. Seinem politischen Stil getreu, hat General de Gaulle diese Operation durch einen symbolischen Akt eingeleitet: Wir meinen jenen Rapport Ende November 1961, zu dem der Staatschef 2200 Offiziere nach Strasbourg rief. „Hier ist die Pflicht!“ rief er an jenem eisigen Tag dem kühlen Auditorium zu, „Nicht mehr im Norden Afrikas, wo es kraft der großen Bewegung der Welt nie mehr unser Schicksal sein wird, zu regieren.“

Kein historischer Abriß könnte das Schicksal und die Krise der französischen Armee besser erhellen als die Laufbahn des Mannes, der heute an der Spitze des Verteidigungsministeriums steht. Pierre Messmer hat sich seine ersten Sporen in der Kolonialverwaltung verdient; nicht die französische Metropole, sondern Asien und Afrika waren die Schauplätze seiner Karriere — nicht selten auch die Kriegsschauplätze. Nach dem Abschluß seines Studiums an der nationalen Schule des überseeischen Frankreichs und an der Schule für orientalische Sprachen leistet der 21jährige

Doktor der Rechte 1937 bis 1939 seinen Militärdienst als Offizier der Luftbeobachtung. Er wird im zweiten Weltkrieg als Fallschirmspringer und Offizier der Fremdenlegion mobilisiert, und schließt sich bereits im Juni 1940 den freifranzösischen Kräften de Gaulles in London an. Er kämpft in Dakar, Gabon, Erythräa, Syrien, Libyen, Bir-Hakeim, El-Alamein, Tunesien und landet im Juni 1944 als Generalstabsmitglied der innerfranzösischen Widerstandskräfte in der Normandie. Nach der Befreiung von Paris und dem Feldzug gegen Hitler-Deutschland springt er im August 1945 in diplomatischer Mission über Tonkin ab, um mit dem Viet-Minh Kontakt aufzunehmen. Er wird' gefangengenommen, doch gelingt ihm wenige Wochen später die Flucht.

Nach der Demobilisierung im Jänner 1946 folgt endlich eine Periode „ruhiger“ Verwaltungsarbeit. Pierre Messmer wird Kabinettsdirektor des Hochkommissärs in Indochina (1947 bis 1948), Gouverneur von Mauretanien (1952 bis 1954), Gouverneur der Elfenbeinküste (1954 bis 1956), Kabinettsdirektor des Ministers für das überseeische Frankreich, Gaston Def-ferre, in der Regierung Guy Mollet (Jänner bis April 1956), Hochkommissär in Kamerun (1956 bis 1958), Hochkommissär in Brazzaville und Generalhochkommissär der Republik in Dakar. Nach der Aufhebung dieses Postens Ende 1959 kehrt Messmer in die militärische Rangordnung zurück. Er ist Oberstleutnant der Reserve bei einer Fallschirmjägereinheit in Algerien, als ihn im Februar 1960 de Gaulles Berufung zum Armeeminister in der Regierung Debre erreicht.

Armee und Nation

Pierre Messmer hat also eine Karriere hinter sich, die praktisch den gesamten traditionellen Horizont der französischen Armee abschritt. Seine mannigfaltigen Erfahrungen als Verwaltungsbeamter und Offizier vermitteln ihm zweifellos eine differenzierte Einsicht in den tiefgreifenden Wandel, den der politische Wille de Gaulles der französischen Armee aufzwingt. Sie lassen ihn wohl das Ausmaß der geistigen Entfremdung erkennen, die im Gefolge dieser Kriegsjahre zwischen Armee und Nation eingetreten ist.

Er hat aber auch vor allem anderen ein Beispiel der intellektuellen Beweglichkeit zu liefern, die nach der Beendigung des algerischen Krieges nun von der französischen Armee gefordert wird. Es hätte gewiß nahegelegen, der neuen Armee in diesem Zeitpunkt zunächst einen neuen Minister zu geben, so wie Premierminister Debre von Pompidou abgelöst worden ist. An ehrgeizigen Anwärtern für diese politische Schlüsselposition würde es bestimmt nicht fehlen. Der französische Armeeminister ist zudem im vergangenen Sommer von.jenen verfassungsmäßigen Kompetenzbeschränkungen befreit worden, die ihn unter der Autorität des Regierungschefs zu einem reinen Exekutivorgan militärpolitischer Anweisungen machten.

Wer sich keine Vorstellung über die Ausmaße des zu bearbeitenden Problemkomplexes machen kann, unternimmt vielleicht gelegentlich in Paris einen Fußmarsch um die Zentralgebäude des Armeeministeriums, der ihn vom Boulevard St. Germain in die Rue de ITIniversiti, die Rue de Bourgogne und die Rue St. Dominique zurück in den Boulevard St. Germain führt. Seit der Zeit Napoleons, der die normale Kapazität des Menschen auf fünf bis sechs direkte Untergebene schätzte, muß sich die Leistungsfähigkeit der französischen Verwaltungstechnokraten erheblich entwickelt haben.

Ende der drei Waffengattungen

Die Reorganisation der französischen Armee ist tatsächlich so tiefgreifend, daß sie auch vor der traditionellen Dreiteilung Armee-Luftwaffe-Marine nicht halt macht. Ihre Konzeption ist völlig neu durchdacht und in drei Hauptaufgaben gegliedert worden:

• Die nukleare Abschreckung, die Frankreich außenpolitisch völlig unabhängig machen und zugleich ein Abwehrmittel im Rahmen der atlantischen Allianz bilden soll.

• Die interventionistischen Streitkräfte, die einerseits die NATO-Ver-pflichtungen in Europa erfüllen und anderseits für überseeische Krisenherde einsatzbereit sein müssen.

• Die Verteidigung des nationalen Territoriums, die in Friedenszeiten lediglich aus einem permanenten Gerippe besteht, das im Kriegsfall durch eine lokale Mobilisierung ergänzt würde.

Die Last dieser Aufgaben wird den französischen Armeeminister kaum dazu veranlassen, sein Schweigen öfter als bisher zu brechen. Diskretion und Zähigkeit dürften weiterhin die dominierenden Eigenschaften seiner Arbeitsweise bilden. Der trotz des würdevoll ergrauten Haares jugendlich straff gebliebene Gang sichert Pierre Messmer ohne Zweifel jene „allure mili-taire“, die auch in Frankreich Vertrauen und Respekt erheischt.

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