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Aufstand gegen die Geschichte

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Frankreich war auseinandergebrochen. Diesmal war der Druck tiefer, gefährlicher, unheilbarer als bei den beiden früheren Putschen. Der großen Mehrheit des französischen Volkes, die innerlich Algerien schon längst abgeschrieben hat, stand die kleine, aber, verzweifelte Minderheit der in Algerien lebenden Europäer gegenüber, die flach de Gaulles letzter Pressekonferenz außer dem Weg ins Massaker nur noch den in die Flüchtlingslager für sich offen sah. Die Armee aber, die beim zweiten Putsch von Algier noch ein Bindeglied zwischen den Kolonialfranzosen und dem Mutterland darstellte, war nun innerlich zerrissen: ein Teil ihrer brillantesten Offiziere und ihre Elitetruppen erhoben sich gegen Paris und stellten sich auf die Seite der weißen Siedler. In diesem ersten Militäraufstand in der Geschichte der Republik hat sich aber auch eine Explosion ereignet, die weit über diese Spaltungen hinausgeht. Es hat sich dabei etwas desintegriert, was sich im einzelnen Franzosen und dem Mutterland darstellte, zu vertragen wußte — nämlich der tragische Pathetiker und der verschmitzte Realist.

Das sprachlose Erstaunen, das dieser dritte Putsch von Algier zunächst in der Welt hervorgerufen hat, rührt ja davon her, daß eine Gruppe von Franzosen, die weder Verrückte noch Dummköpfe, sondern ernstzunehmende Männer waren, das Rad der Geschichte aufhalten zu können glaubte. In dem Gewaltstreich der Generäle Challe und Salan, der Obersten Goddard, Broizat, Lacheroy und Gardes brach ein Feuer an die Oberfläche, das lange in den Herzen eines Teils der Offiziere und der Intelligenz Frankreichs geschwelt hatte. Es war nicht einfach die Erbitterung von tapferen Berufssoldaten, die nach Indochina und Suez nicht auch noch ein drittes Schlachtfeld gedemü- tigt verlassen wollten. In seinem Kern — und das macht das der Außenwelt Unverständliche des Ereignisses aus — handelt es sich um einen Aufstand gegen die Geschichtsphilosophie, wie man sie seit Herder, Hegel und Marx verstand.

Feinde der Nation

Für diese Generäle und Obersten schien es keinen unwiderruflichen Gang der Geschichte zu geben. Ihnen schien die Stunde des weißen Mannes in Afrika noch nicht unwiderruflich vorüber — wenn man nur will. Sie fühlten sich gar nicht als Nachzügler der Geschichte, sondern glaubten in ihrer Ideen-Fixierung wohl eine Art von „Spanienkrieg“ des dritten Weltkrieges auszufechten, den ihrer Meinung nach die europäisch-amerikanische Welt gegen die Koalition von Kommunismus und Emanzipation der farbigen Völker bald zu führen haben werde. Warum eine kühle Intelligenz wie der bisher als besonnen und maßvoll geltende General Challe sich an die Spitze dieses Pronunciamentos gestellt hat, versteht man wohl nur, tyenfl man diesen Kern in dem Aufstand zu sehen vermag. Andernfalls ist er nur noch klinisch zu beurteilen.

Am 13. Mai 1958 ging es um denselben Kern. Aber damals hatte ja Frankreich noch den Mann in der Reserve, der in so erstaunlicher Weise die pathetische und die opportunistisch-realistische Seite des französischen Wesens in sich vereint: den General de Gaulle. Und auch beim zweiten Putsch von Algier, dem vom 24. Januar 1960, vermochte er mit dem Gewicht seiner Persönlichkeit die aufbegehrenden Kräfte im Offizierskorps, darunter auch den damaligen Oberbefehlshaber in Algerien, General Challe, im Banne zu halten; mit dieser mühsam durchgehaltenen Neutralität der Armee war dann auch das Versanden jenes Putsches unausweichlich. Hat nun der sogar von einem Mann der Linken als „Teppichhändler“ beschimpfte französische Staatschef in seiner letzten Pressekonferenz zu sehr nur den „realistischen“ Liquidator hervorgekehrt und das pathetische Element in seiner Nation vernachlässigt?

Am 22. April 1961 zerschellte die große Hoffnung de Gaulles, die Anpassung Frankreichs an die neue Lage in Afrika und in der Weltpolitik in einer Weise durchzuführen, die den französischen Stolz nicht zu sehr verletze und damit seinem Land und der Welt eine Explosion erspare. Am letz ten Samstag mußte der französische Staatschef sein höchstes Ideal opfern — nämlich ein Schiedsrichter über allen Parteiungen zu sein. In den ersten vierundzwanzig Stunden nach Ausbruch des Putsches suchte er es noch zu retten, indem er bloß seinen treuen Fridolin, den Premierminister Debre, ans Mikrophon schickte. Am Sonntagabend jedoch mußte er sich in Generalsuniform an das Volk wenden und das tun, was er sich bis dahin selbst gegenüber den schlimmsten Extremisten auf der Rechten wie der Linken zu tun verweigert hatte: eine Gruppe von Franzosen zu Feinden dei Nation zu erklären.

Am Rande der Panik

Es galt, in der Landschaft des Bürgerkrieges, die aufmarschierten Kräfte nüchtern zu beurteilen. Die unbestreitbare Tatsache, daß de Gaulle heute die überwiegende Mehrheit des französischen Volkes auf seiner Seite hat, ist für ihn eine wertvolle moralische Stütze — der Bürgerkrieg wäre aber damit noch nicht entschieden. Wenn die Mehrheit der Franzosen heute für de Gaulle und auch gegen die putschierenden Generäle und Obersten eingestellt ist, so liegt das in erster Linie daran, daß sie ihre Ruhe haben und nicht weiter mit Algerien belästigt sein wollen. Etwas nicht wollen, ist aber noch nicht dasselbe, wie sich aktiv für das, was da ist, einzusetzen.

Der Putsch vom 13. Mai 1958 wat von dem Augenblick an entschieden, als sich herausstellte, daß niemand für die Vierte Republik auf die Straße gehen wollte. Würden die gleichen Leute, die damals sagten, daß „die Politiker und die Generäle das untereinander ausmachen" sollten, sich nun bei der Bedrohung der Fünften Republik de Gaulles anders verhalten? Führende Gaullisten, insbesondere Premierminister Debre und Kulturministei Malraux, haben in diesen Tagen mit dem romantisch-jakobinischen Gedanken einer ,,evee en masse“ gespielt, Bei Malraux, dem Renegaten der Linken, erstaunte das nicht, sehr jedocl bei der übrigen gaullistischen Führungsgarnitur mit ihrem ausgeprägi „technokratischen“ Habitus, ihrem politischen Stil des Vonobenherab- Dekretierens. Der mitternächtlich« Aufruf Debres am Sonntag, beim Tor der Sirenen zu den Flugplätzen zti strömen und dort gelandete Paras durch Überredung vom Bürgerkrieg abzubringen, wirkte denn auch als ein« Geste der Panik, besonders in ihrem Gegensatz zu der so festen Haltung de Gaulles in seiner Rede vier Stunden zuvor.

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