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Der berstende Tiegel

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Es war im Grunde immer eine — nicht einmal besonders ersprießliche — Legende: die Gewißheit, daß, wer die Freiheitsstatue passiert hatte, im neuen Kontinent nicht nur Freiheit finden, sondern im „Schmelztiegel-' neuer Gemeinsamkeit und Einheit die besondere ethnische Eigenständigkeit fast automatisch einbüßen und dies begrüßen werde. In Wirklichkeit war stets das Gegenteil der Fall: einer jeden Immigrationswelle folgte — später sich teilweise lockernd — die lokale Zusammenballung nationaler oder manchmal religiöser Gruppen in fast geschlossenen Gemeinden. Es entstanden jüdische, italienische, irische, chinesische Stadtteile in fast allen Großstädten, deutsche, skandinavische Enklaven in „fremdstämmiger“ ländlicher Umgebung, polnische Distrikte in Minengebieten usw. Und die Politiker haben dem immer Rechnung getragen. Das Werben um ein „Block-Vote“ hat bei allen Wahlen bis heute eine nicht kleine Rolle gespielt: irischen, jüdischen, teilweise früher auch deutschen lokal wichtigen Bevölkerungsteilen haben in allen Einzelstaaten Bewerber um öffentliche Ämter innenpolitische, teilweise auch außenpolitische Berücksichtigung spezieller Wünsche und Tendenzen versprochen. Ausdruck der Bedeutung, die man solchem Gruppenbewußtsein zumißt, ist unter anderem die selbstverständlich gewordene Beachtung nationaler Feierlichkeiten. Die deutsche „Steu-benparade“, der irische St. Patricks-Tag und die öffentlich unterstützte Feier des chinesischen Neujahrs ebenso wie die faktische Gleichstellung hoher jüdischer Feiertage mit christlichen Festen in der Öffentlichkeit zeigen es.

Das alles aber fand Raum innerhalb der pluralistischen Ordnung. Weit entfernt davon, einen amorphen Einheitsbrei zu entwickeln, entstand ein Nebeneinander von eigenständigen Kulturambitionen.

Jedoch: Zwanzig Prozent der Bevölkerung, mehr als 20 Millionen schwarzer Staatsbürger, gehörten nicht dazu. Sie hatten keine politischen Vertreter, waren — im Süden vor allem — weitgehend durch Gesetze des Einzelstaates, an der Ausübung des Wahlrechts gehindert, mußten ihre Kinder in besondere, schlechtere Schulen schicken, waren im Alltagsleben Dutzenden von Beschränkungen unterworfen (Verkehrsmittel, Erholungsstätten, Restaurants verweigerten ihnen Zugang!).

Sie gehörten nicht in die pluralistische Gesellschaft. Daß sie nicht „eingeschmolzen“ waren, lag auf der Hand. Nicht darum begannen sie zu kämpfen: sie wollten ganz einfach die bürgerrechtliche Gleichstellung zu den „Kaukasiern“, trivial formuliert, ein Bestandteil des großen aus den verschiedensten Ingredienzien zustande gekommenen Kuchens, genannt „USA“, sein.

Als Söhne der bürgerlichen Ordnung sich im SDS mit den „Schwarzen Panthern“ in gemeinsamem Protest gegen den Vietnamkrieg, gegen Polizeiterror, in antikapitalistischer Entscheidung gegen den militärisch-ökonomischen Komplex“ zusammenfanden, war bereits die Unvereinbarkeit zweier Welten klar geworden. Nur teilweise war das noch mit dem

Signum jung und alt zu erklären, wenn auch die Statistik, die für die nächsten 5 Jahre das Durchschnittsalter des Amerikaners 25 Jahrein voraussagt, dem eine besondere Note anfügt. Die wilde, maoistisch-lenini-stische Rhetorik der „Panther“ und deren folgenschwere Zusammenstöße mit Polizei und Gerichten (wobei manche Zweifel an der Schuldfrage aufgetaucht sind!) stellen nur die teilweise hysterische Artikulation des allgemeinen Gefühls der Frustration in den ethnischen Minderheiten, der schwarzen Militanz, der liberal-radikalen bürgerlichen Intelligenz der, vor allem aber der Jugend verschiedenster Herkunft

Das sind noch keine Mehrheiten, die abseits stehen. Die weiße Arbeiterschaft, das heißt praktisch bis auf wenige Ausnahmen wie den Autoarbeitern unter dem (deutschgeborenen!) Walter Reuther die Gewerkschaften, stehen aus verständlichen beruflich-wirtschaftlichen Gesichtspunkten ihnen feindselig gegenüber: weiße Privilegien stehen in Gefahr! Aber die Minderheiten melden sich zu Wort. Die Puertoricaner haben in New York durch die Gruppe der „Yöung Lords“ ihre Stimme sehr deutlich hören lassen. Dreimal haben Indianergruppen sich, auf alte Verträge berufend, durch Besetzung ihnen ursprünglich zugesicherter Ländereien oder Plätze — sehr spät — zur Wehr gesetzt gegen ihre Rechtlosigkeit In steigendem Maße protestieren Mexican-Americans ebenso wie chinesische Gemeinden gegen Diskriminierung. Der Schmelztiegel ist noch nicht zerbrochen. Aber er zeigt Risse.

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