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Kriegsverbrechen und Volkerrecht

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Ungezählte Male wird täglich von Kriegsverbrechen, vom Prozeß in Nürnberg, den der amerikanische Richter Jackson als das „erste derartige Verfahren der Weltgeschichte“ bezeichnete, geschrieben und gesprochen. Doch gibt es viele, die sich über Inhalt, Entwicklung und völkerrechtliche Bedeutung dieses bereits zum Schlagwort gewordenen Ausdruckes nicht im klaren sind; ist ein solches Verfahren wirklich so neuartig oder wodurch unterscheidet es sich von ähnlichen Vorgängen? Gab es bisher überhaupt „Kriegsverbrechen“? Die Beantwortung dieser Fragen ist für die sich abzeichnende Gestaltung des künftigen Völkerrechts von Interesse.

Das Völkerrecht in der zu Beginn des zweiten Weltkrieges bestehenden Form kannte Kriegsverbrechen nur insoweit, als sie Verletzungen des Kriegsrechtes durch Wehrmachtsangehörige eines kriegführenden Staates darstellten, etwa unvorschriftsmäßige Behandlung von Kriegsgefangenen. Durch die verschiedenartige Staatenpraxis bezüglich der Verbindlichkeit rechtswidriger militärischer Befehle war jedoch eine erhebliche Unsicherheit über die Auswahl der für derartige Rechtsverletzungen Verantwortlichen entstanden; neben der Haftung des ausführenden Organs wurde nach anderer, insbesondere englischer Regelung der entsprechende Oberkommandierende als Verantwortlicher angesehen, auch wohl die Staatshaftung selbst vertreten. Im großen und ganzen aber waren solche Verbrechen nicht als Völkerrechtsverletzungen zu bestrafen, sondern nach dem Recht des betreffenden Landes.

Vor der Unterzeichnung des Völkerbundvertrages bestand auch für friedensbedrohende Handlungen, für den leichtsinnigen oder verbrecherischen Beginn eines Krieges keine völkerrechtliche Sanktion. Eine „Schuld am Kriege“ existierte völkerrechtlich nicht. Die das klassische Völkerrecht von Augustinus bis Grotius, Pufendorf, Vattel und beinahe bis in die neueste Zeit bewußt oder unbewußt beherrschende Lehre vom „gerechten Krie g“, die den Krieg dann erlaubte, wenn er der Abwehr eines rechtswidrigen Angriffes (oder der Durchsetzung eines rechtmäßigen, rechtswidrig verweigerten Anspruchs!) diente, war einer solchen Entwicklung durch ihre verschieden deutbare Formulierung nicht günstig. Es ist bezeichnend, daß erst mit der allmählichen Überwindung dieser Doktrin das Kriegsverhütungsstreben größeren, völkerrechtlich wahrnehmbaren Aufschwung genommen hat.

Während der Völkerbundsvertrag übrigens den Krieg in bestimmten Fällen nach Scheitern von Schlichtungsversuchen „zur Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit'' zuließ, ging der Kellogg-Pakt weiter, indem die Unterzeichner 1928 erklärten, den Krieg als Lösungsmittel für zwischenstaatliche Streitfälle zu „verurteilen“ und auf ihn als Werkzeug der nationalen Politik zu verzichten. Auch hier wurde der Krieg aber nicht ausgeschlossen; ein Völkerrechtsdelikt war er jedoch nur dann, wenn er in Verletzung eines von dem Angreiferstaat geschlossenen Vertrages begonnen und geführt wurde.

Die verschiedenen Bemühungen, den Begriff „A n g r e i f e r“ genau festzulegen, führten zu keinem dauernden und allgemein anerkannten Ergebnis.

Die von der ganzen Menschheit gewünschte Ausschaltung des Krieges aus der künftigen Entwicklung wurde so einerseits durch ungenügende Wirksamkeit der betreffenden Pakte, andererseits und hauptsächlich durch das Grundübel des Mangels an internationaler Solidarität gegenüber einzelnen Rechtsbrechern nicht erreicht. In keinem dieser Verträge war von „Kriegs-verbrechen“ oder „Kriegsverbrechern“ die Rede. Das überrascht um so mehr, als doch in der alten wie in der neuen Geschichte gelegentlich kriegerischer Auseinandersetzungen beinahe regelmäßig Verletzungen des Kriegsrechts, von Friedensbrüchen usw. ganz abgesehen, vorkamen und von den Beteiligten behauptet wurden. Es bestanden also bereits gewisse allgemeine Anschauungen über die Verwerflichkeit dieser Handlungen, die öffentliche Meinung aber fand keinen völkerrechtlichen Ausdruck und konnte einen solchen angesichts des schroffen Mißtrauens, mit dem sich die einzelnen Staaten gegenüberstanden, gar nicht finden.

Wohl aber klagte der Friedensvertrag von Versailles den ehemaligen Kaiser Wilhelm an „for a supreme offence against international morality and the sanetity of treaties“ (a. 277 ff.); ein besonderer Gerichtshof sollte eingesetzt werden, über den Angeklagten zu richten und die Richtschnur seines Verfahrens sollte sein, „den feierlichen Verpflichtungen und internationalen Verbindlichkeiten ebenso wie dem internationalen Sittengesetz Achtung zu schaffen“. Unter geeigneter Anwendung der bisher bestehenden iiigemeinen Rechtssätze beruht auch das gegenwärtig in Nürnberg beobachtete Verfahren auf diesen Grundsätzen. Die Regelung des Verfahrens bei derartigen Prozessen wurde bisher in Wissenschaft“ und Staatenpraxis ebenso spärlich behandelt wie das Kriegsverbrecherproblem selbst.

Während also der ehemalige deutsche Kaiser auch für die Vorbereitung des Krieges hätte Rechenschaft geben sollen, mithin der bis dahin bestehende Kriegsverbrechenbegriff erweitert worden war, wurden die übrigen Beschuldigten, teils namentlich, teils gruppenweise, nur der „V erletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges“ geziehen. Die von den alliierten und assoziierten Mächten geforderte Auslieferung der Beteiligten unterblieb, weil die deutsche Regierung versprochen hatte, das Verfahren selbst durchzuführen — mit eine Folge der Auffassung, der einzelne Staat sei für die rechtswidrigen Akte seiner Angehörigen verantwortlich. Das gegebene Versprechen wurde übrigens nicht erfüllt.

Trotz des verheißungsvollen Ansatzes zur Bildung eines wahrhaften Völkerrechts gegenüber Friedensstörern und Kriegsrechtsverletzern kam es in der Zeit zwischen den beiden Kriegen zu keiner Regelung über die Schuld am und die Schuld im Kriege; und auch die Völkerrechtswissenschaft, besonders des Kontinents, befaßte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Verdroß, Renault), kaum mit dem Problem, wie überhaupt gerade das Kriegsrecht in dieser Zeit häufig als überflüssig und überholt betrachtet wurde. Die Ereignisse des letzten Jahrzehnts dürften gezeigt haben, wie sehr die mangelnde Kodifikation des Kriegsrechts die Rechtsunsicherheit und die Vorbereitung des Krieges für die Angreifernationen förderte.

Die Völkerrechtswissenschaft und die Staatenpraxis des Westens behandelten weit intensiver und konstruktiver das Problem der Kriegsverhütung und der Verletzung des internationalen Rechtes. Schon 1920 schlug ein Engländer, Phillimore, vor, drei Gruppen von Völkerrechtsverbrechen zu scheiden: 1. Verbrechen in Friedenszeiten, 2. die Erklärung eines ungerechten Krieges und 3. Kriegsverbrechen im engeren Sinn. Das Juristenkomitee zur Errichtung eines ständigen internationalen Gerichtshofes forderte ungefähr gleichzeitig die Schaffung eines solchen, für die Verfolgung von Verletzungen der internationalen Ordnung oder des allgemeinen Rechtes der Völker zuständigen Gerichtshofes. Neben der Befugnis, die Strafen und die zur Vollstreckung derselben nötigen Maßnahmen festzusetzen, sollte diese Instanz auch das Recht haben, „die Natur des Verbrechens zu bestimmen“, mit welcher Umschreibung die erforderliche Elastizität der Zuständigkeit gewonnen worden wäre. Bereits hier zeigt sich die besonders jetzt deutlich gewordene Tendenz zur Ausweitung der Gültigkeit des „anerkannten“ Völkerrechts auf die das Zusammenleben der zivilisierten Menschheit überhaupt leitenden allgemeinen Sittengesetze. Die Gründung der Vereinten Nationen unter Zugrundelegung der Charta von San Francisco schließt nun die Aufnahme dieser Sätze in das Völkerrecht in sich.

Am jetzt abrollenden Prozeß zu Nürnberg ist also neu die Durchführung des Verfahrens selbst und die Aufnahme der Anklagepunkte unter die Sätze des Völkerrechts. Die Formulierung jedoch reicht weiter zurück, konnte nur nicht verbindliches Recht werden; dies ist erst durch den Ausgang des Krieges im Zusammenhang mit der Entstehung der Vereinten Nationen möglich geworden.

Nicht neu ist, daß der Sieger gleichzeitig Richter ist. Abgesehen davon, daß nur wenige Staaten neutral geblieben sind (immerhin hätten auch diese Sitz und Stimme im Gerichtshof erhalten können), standen einer Übertragung der Gerichtsbarkeit an Deutschland oder Beteiligung daran — neben dem Fehlen einer entsprechenden Regierung — die Erfahrungen nach dem ersten Weltkrieg entgegen und schließlich wurde ja der Gedanke der Haftung Deutschlands als Staat vertreten.

Die Brechung des Weltfriedens, das Verbrechen, einen Krieg überhaupt begonnen zu haben, wie Sir Hartley Shawcross sagte, bildet den ersten Anklagepunkt, die Verletzung internationaler Verträge den zweiten, Verstöße gegen das Kriegsrecht den dritten und Verbrechen gegen die Menschheit (und gegen die Menschlichkeit) den vierten. Die Tatsache, daß auch gegen die deutsche Bevölkerung gerichtete Handlungen nun Gegenstand einer Aburteilung vor der Weltöffentlichkeit sind, braucht nicht aus dem Recht des Siegers erklärt zu werden, sondern einfach damit, daß eine deutsche Regierung, die ansonsten in erster Linie zuständig wäre, gegenwärtig nicht vorhanden ist.

Doch zu Nürnberg stehen nur die sogenannten „Hauptkriegsverbrecher“ vor Gericht. Die breite Masse der entsprechender Verbrechen Angeklagten wurde und wird vor die nationalen Gerichte der einzelnen Staaten gestellt, die zu diesem Zweck eigene Gesetze erlassen haben; auch Österreich besitzt ein solches, vom 26. Juni 1945, gesetztechnisch allerdings unbefriedigend.

Hier ist es nun wichtig, zwei Formen des Kriegsverbrechenbegriffes zu scheiden: die völkerrechtlichen und die nationalen Kriegsverbrechen. Nationale Kriegsverbrechen sind die Handlungen, die zwar nicht Völkerrechtsdelikte sind, aber im Widerspruch zu den der Erhaltung und Rei-, nigung der nationalen Ehre, Sicherheit und Freiheit dienenden Gesetzen des einzelnen Staates stehen, also etwa Kollaboration, Denunziation, Grausamkeit, allgemeiner Hochverrat; Realkonkurrenz mit „gemeinen Verbrechen“ liegt häufig vor. Das für die Sühne dieser Handlungen zuständige Gericht ist ein nationales, wobei die häufig vorkommenden zwischenstaatlichen Kompetenzkonflikte gelöst werden müssen. Völkerrechtliche Kriegsverbrechen, soweit keine Zuweisung zu einem weiteren Forum erfolgt, können gleichfalls vor diese Gerichte gebracht werden.

Trotz der ungeheuren Schwierigkeiten, denen das Völkerrecht in der zurückliegen den Zeit ausgesetzt war, Hat es diese Probe im allgemeinen bestanden und die Erfüllung des alten Planes, einen wirklichen Weltgerichtshof mit umfassenden Befugnissen für die Entscheidung der vor ihn gebrachten Sachen zu errichten, scheint im Hinblick auf den bereits gemachten Anfang durchaus möglich; wurde doch schon von der Bildung eines Weltparlaments gesprochen. Die bisherige Form des Souveränitätsdenkens, die einer solchen Entwicklung entgegenstehen könnte, ist bereits erschüttert.

Die in der Ausdehnung des Kriegsverbrechenbegriffes von den bloßen Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges bis zur Einbeziehung der Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Achtung der Verträge, gegen die Menschlichkeit sich manifestierende Versittlichung des Völkerrechts wie der gesamten internationalen Beziehungen darf nicht wieder durch machtpolitische Erwägungen gehemmt, sondern muß auch im Rechtsdenken des einzelnen verwurzelt, werden; Grundlage dieser Entwicklung ist das gegenseitige Vertrauen der Völker. Verletzung der für gesittete Völker, sei es im innerstaatlichen oder im außerstaatlichen Bereich, üblichen Regeln muß gleichzeitig Verletzung des Völkerrechts selbst sein, die alle Nationen gemeinsam zur Sühnung auf den Plan ruft.

Nach Wiederherstellung des Glaubens an die Menschheit, an die Würde und den Wert des einzelnen Menschen ergeben sich so aus dem gerichtlichen Nachspiel zu diesem großen Kriege neue Wege zur Erfüllung des alten Wunsches der Welt nach Frieden und Aufwärtsentwicklung.

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