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Afrika leidet an Hunger

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IN TUNIS FANDEN vor kurzem drei Regionalkonferenzen der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, statt — oder besser gesagt, zwei dieser unpolitischen Wirtschaftskonferenzen flogen vorzeitig wegen „politischer“ Unstimmigkeiten der Delegierten auf. Nur die dritte Konferenz über afrikanische Landwirtschaftsplanung konnte zu Ende geführt werden — aus dem einfachen Grund, weil keine „umstrittene“ Delegation teilnahm.

ZUR SELBEN ZEIT, als diese afrikanischen Landwirtschaftsprobleme hier im Vordergrund des Interesses standen, wurde in Paris ein Buch veröffentlicht unter dem Titel: „L'Afrique Noire est mal partie“. Der Verfasser ist ein französischer Agronom, Rene Dumont, der beileibe kein bösartiger Neo-kolonialist oder Imperialist ist, sondern, im Gegenteil, ein aufrichtiger Freund der Entwicklungsländer.

Die aufgeflogenen Konferenzen von Tunis waren nun eine überzeugende Illustrierung der Thesen von Dumont, nämlich, daß diese Länder „immer noch nicht kapiert hätten, daß sie arm seien“. Jedes Land versuche das andere mit einem übertriebenen Aufwand an politischem Luxus zu überbieten. Die diversen Präsidenten Afrikas bauen für sich selber Paläste, haben eine Flotte von chromblinkenden Mercedes, Paradetruppen nach dem Vorbild der Garde Republicaine, livrierte Diener. Kurz, ein übertriebener Aufwand an Repräsentation, der in keinem Verhältnis zur Armut der Länder steht.

Auch in den Administrationen zeigt sich die gleiche Erscheinung: Autos, Büros, mit air condition, Saläre, die für jene Länder astronomisch hoch sind. Laut Dumont verdient in gewissen Ländern ein Parlamentsabgeordneter in eineinhalb Monaten so viel wie ein Bauer seines Landes in seinem ganzen Leben!

DIE POLITIK ÜBERWIEGT in den Ländern Afrikas. Ein Rapport der FAO über Afrika (FAO Africa Survey, Rom, 1962) schreibt, daß man in diesen Ländern den Technikern bessere Saläre geben und sie nicht den Administratoren unterordnen solle. Was soviel heißen soll wie: die politischen Parteifreunde des Präsidenten sitzen in allen administrativen Posten und bestimmen die Entwicklungspolitik ihrer Länder nicht entsprechend den technischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten, sondern entsprechend ihren eigenen „Bedürfnissen“. Um nochmals den FAO-Rapport zu zitieren: „Die Planer sollten in der Lage sein, Maßnahmen vorzuschlagen, um sicherzustellen, daß die wirtschaftliche Entwicklung allen zugute kommt und übertriebener Aufwand zuungunsten anderer verhindert wird.“

Bei den Konferenzen von Tunis kamen diese Probleme recht deutlich zum Vorschein. Unter den Delegierten konnte man, sogar rein äußerlich, zwei Typen unterscheiden. Einerseits ernsthafte junge, an europäischen Universitäten ausgebildete Techniker und Experten, anderseits den Typ des rücksichtslosen Parteibosses und Politikers. Sofort rissen letztere die Zügel an sich, während die Techniker recht unbehaglich und unglücklich dasaßen. Sie konnten nichts gegen die Politiker unternehmen und mußten jedesmal Beifall klatschen, wenn diese sich in ihren Angriffen gegen die Südafrikaner überboten, statt von Landwirtschaftsproblemen zu sprechen.

DIE RASSENPOLITIK SÜDAFRIKAS will niemand in Schutz nehmen, und jedermann kann sehr wohl verstehen, daß die afrikanischen Staaten sehr stark und emotionell dagegen reagierten. Doch im Licht von Dumonts Buch war es äußerst interessant, den Konferenzverlauf zu verfolgen. Der Hauptopponent der Südafrikaner und der eigentliche Verantwortliche dafür, daß die Konferenz gescheitert ist, war der neue ghanesische Landwirtschaftsminister Krobo Edusei.

Sein Name ist kürzlich durch die

Weltpresse gegangen, als seine Gattin iu London ein goldenes Bett kaufte, was sogar in ghanesischen Regierungs-kreisen Aufsehen erregte. Der ghanesische Staatspräsident und „Erlöser“ Kwame Nkrumah fand auch, daß die diversen Luxusvillen, welche sich Edusei gebaut hatte, sogar für ghanesische Verhältnisse übertrieben seien, und dieser fiel vorübergehend in Ungnade.

Doch Nkrumah hatte später wieder seinen politischen Organisatoren Edusei nötig und ernannte ihn zum Landwirtschaftsminister. Eine bessere Illustrierung für Dumonts Thesen könnte nicht gefunden werden.

Während also diese Politiker sich in Tiraden ergingen, blätterte man in den Berichten und Rapporten der FAO über Afrika, eben jenen Dokumenten, mit welchen sich die Delegierten hätten befassen sollen. Und während diese wohlgenährten, wohlgekleideten Regierungsvertreter in den Luxushotels saßen, betrachtete man die von der FAO aufgehängten Photos mit nackten, hungernden Negern.

Denn Afrika hat Hunger!

Wohl gibt es keine dramatischen Hungersnöte wie in Indien oder China, mit Hunderttausenden von Toten — sondern es ist eine chronische, schleichende Unterernährung, die sich ständig verschärft, falls nicht schleunigst energische Maßnahmen ergriffen werden.

Afrika hat heute 214 Millionen Einwohner. Am Ende dieses Jahrhunderts werden es 420 Millionen sein!

Die 214 Millionen können heute nur notdürftig ernährt werden.

1960/61 stieg die landwirtschaftliche Produktion Afrikas um vier Prozent, 1961/62 fiel sie um denselben Prozentsatz. Die Bevölkerung steigt jedes Jahr um zwei Prozent. Anders ausgedrückt: Der Nahrungsmittelspiegel ist heute niedriger als 1959/60.

Afrika hat heute weniger zu essen als vor dem zweiten Weltkrieg!

EINE GIGANTISCHE AUFGABE wird es sein, Afrika' vor dem Hunger zu retten. Man muß die Gesamtstruktur der afrikanischen Gesellschaft und ihre Lebensgewohnheiten verändern. Nur eine globale, alle Lebensbereiche umfassende Entwicklung kann die eben erst unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten auch wirtschaftlich auf die Füße stellen.

Die heutige Situation kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Der Großteil der Bevölkerung Afrikas lebt auf kümmerlichstem Niveau von einer primitiven Landwirtschaft, welche sie nur mit Mühe vor dem Verhungern bewahrt. Gleichzeitig zeigen sich Mangelerscheinungen, ganz besonders bei den Kindern. Im Senegal zum Beispiel sterben 50 Prozent aller Kinder in der Altersgruppe von einem bis sechs Jahre. Vitamin- und Proteinmängel zeigen sich überall, auch dort, wo kalorienmäßig die Nahrung genügen würde. In gewissen Bevölkerungsgruppen erreicht die Kalorienmenge das notwendige Minimum, aber in den meisten Ländern liegt sie um 70 bis 75 Prozent. Bei Stämmen, die sich hauptsächlich von Wurzeln ernähren, kann der durchschnittliche Konsum von tierischem Protein auf ein bis drei Gramm absinken.

In den Ländern Westafrikas beträgt der durchschnittliche Fleischkonsum pro Jahr und Kopf fünfeinhalb Kilogramm, in Ost- und Zentralafrika 12,4 Kilogramm. In den meisten Ländern Afrikas wird nur sehr wenig Fleisch gegessen, und zwar nicht nur aus hygienischen Gründen. Der Hauptgrund ist ein soziologischer, der uns ein Beispiel dafür gibt, daß es nötig sein wird, alteingewurzelte Lebensgewohnheiten zu ändern, bevor Afrika richtig ernährt werden kann. In Tan-ganjika zum Beispiel gibt es drei Millionen Stück Vieh, bei einer Gesamtbevölkerung von zwei Millionen. Und trotzdem muß dieses Land praktisch alle Milch, Butter und Käse aus Australien importieren! Fleisch wird kaum gegessen. Der Grund ist folgender: Die Viehherde ist der Reichtum, eine große Herde bringt ihrem Besitzer Prestige, daher schlachtet man höchstens eine kranke Kuh.

Solche und ähnliche Konsumgewohnheiten — Hühner und Eier dienen nur zu zeremoniellen Geschenkzwecken — stören überall die Ernährung.

ANALPHABETEN SIND 75 BIS 99 PROZENT der Einwohner Afrikas. Die Arbeitsleistung der Landarbeiter ist minimal. Man begnügt sich mit wenig, hat also keinen Anreiz, mehr zu arbeiten. Da aber der Großteil der Bevölkerung nur eben so viel produziert, wie er braucht, um nicht zu verhungern, verdient niemand Geld, mit welchem landwirtschaftliche Geräte oder Dünger gekauft werden könnten. Folglich steigt die Produktion nicht, und der Nahrungsspiegel hält nicht mit der Bevölkerungsentwicklung Schritt.

In den meisten Ländern muß ein archaisches Landbesitzsystem der Stämme den neuen Gegebenheiten angepaßt werden, und dies wiederum bedeutet eine völlige Strukturänderung der betreffenden Gesellschaft. Man sieht, •wie komplex das Problem ist, und man weiß eigentlich nicht recht, wo der Hebel zuerst angesetzt werden sollte.

Die Bevölkerung Afrikas lebt in einer Sozialstruktur, die den heutigen Anforderungen nicht mehr genügt. Sie ist unterernährt und krank. Die Weltgesundheitsorganisation unternimmt alle Anstrengungen, um dem abzuhelfen. Doch gleichzeitig schafft sie dadurch neue Probleme, denn in dem Maße, in dem Krankheiten und Sterblichkeit abnehmen, nimmt die Bevölkerung und damit der Nahrungsmangel zu.

QUADRATUR DES ZIRKELS? Wenn

Photos: Magnum die Zahl der überlebenden Kinder steigt, verschärfen sich die Probleme noch viel mehr. Während es in Frankreich auf 250 Erwachsene 100 Kinder gibt, kommen in Ober-Volta 87 Erwachsene pro 100 Kinder. In Afrika gibt es aber eine chronische Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. Während in Frankreich 150 Erwachsene für 100 Kinder verdienen, sind es in Tunesien noch 48 und in Ober-Volta vier. Eine praktisch unmögliche Aufgabe, für vier Erwachsene, 100 Kinder zu versorgen!

Die meisten afrikanischen Staaten unternehmen große Anstrengungen, ihren Kindern Primarschulerziehung zu geben. Während in Ghana, dem Kongo und in Kamerun an die 70 Prozent der Kinder die Primarschule besuchen, sinkt in den anderen Ländern der Prozentsatz rapid bis auf drei bis vier Prozent (Nigeria, Äthiopien) ab. Mit Ausnahme von Ghana, wo 29 Prozent der Kinder Sekundarschulbildung erhalten, ist dies in den anderen Ländern Afrikas nur 0,5 bis 5 Prozent der Fall. Eine soziale Strukturwandlung Afrikas, ja, nur die Einführung rudimentärster neuer landwirtschaftlicher Techniken hängt aber von einer raschen Hebung des intellektuellen Niveaus der Bevölkerung ab.

Auch hier unternimmt zum Beispie! die FAO große Anstrengungen, um in landwirtschaftlichen Kursen die Eingeborenen zu lehren, wie man mehr Lebensmittel produzieren kann. Doch die Aufgabe ist gewaltig. Wo findet man die nötige Anzahl Ingenieure, Techniker und Ärzte? Von den Lehrern gar nicht zu sprechen. In manchen Ländern Afrikas gibt es einen Arzt für 15.000 Menschen.

Nur ganz wenige Afrikaner haben an europäischen Universitäten studiert, und diese bieten wiederum sofort andere Probleme. Dumont bringt ein Beispiel dafür: Elf junge Ärzte, die in Frankreich studiert hatten; kehrten 1961 nach Kongo-Brazzaville zurück. Keiner war bereit, auf Außenposten zu arbeiten. Und der bereits zitierte FAO-Rapport über Afrika spricht von einer „Entfremdung der ausgebildeten Afrikaner von ihrem landwirtschaftlichen Milieu“, das heißt, sobald der Landarbeiter die Primarschule beendet oder sonst irgendwie Lesen und Schreiben gelernt hat, wandert er in die Stadt und vergrößert dort das arbeitelose Proletariat. Die Ausbildung, welche ursprünglich dazu bestimmt war, das Niveau der Landwirtschaft zu heben, schafft neue Probleme in der Stadt.

VIELE DER HOCHQUALIFIZIERTEN TECHNIKER wandern in rein administrative, politische Stellungen ab, da die politischen Posten besser bezahlt sind und mehr Prestige haben.

Neben diesen soziologischen und technischen Problemen, welche die Bevölkerung Afrikas betreffen, sehen sich die Regierungen großen volkswirtschaftlichen Problemen gegenüber.

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