Bosnien  - © Foto: Getty Images / Anadolu Agency / Samir Jordamovic

„Tag der weißen Bänder“ in Prijedor: Das ist der Krieg

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Der Politologe Vedran Dzihic ist 1993 vor dem Jugoslawienkrieg geflüchtet. Jährlich erinnert er an den „Tag der weißen Bänder“, der seine Heimatstadt Prijedor zu einem grausamen Hort ethnischer „Säuberungen“ machte.

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Der Politologe Vedran Dzihic ist 1993 vor dem Jugoslawienkrieg geflüchtet. Jährlich erinnert er an den „Tag der weißen Bänder“, der seine Heimatstadt Prijedor zu einem grausamen Hort ethnischer „Säuberungen“ machte.

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Der Krieg kommt immer in kleinen Schritten. Du spürst das Unheil kommen, und doch verdrängst du es. Die Augen sehen es, doch das Herz glaubt noch immer nicht daran und hofft, dass alles gut werden wird. Am Ende wird es aber nicht gut. Im Oktober 1991 saßen wir alle zu Hause wie gebannt vor dem Fernseher in meiner Heimatstadt Prijedor in Bosnien und Herzegowina. Die Situation im Land war sehr angespannt, der Krieg in Kroatien tobte mit voller Wucht, die meisten befürchteten das Überschwappen des Krieges auf Bosnien.

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Das bosnische Fernsehen übertrug die Debatte im Parlament in Sarajevo. Am Rednerpult stand der Anführer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, der wegen Kriegsverbrechen verurteilt werden würde. 1991 trotzte er vor Selbstbewusstsein. In einem Moment setzte er an zu einer schrecklichen Drohung an die Adresse der Politiker der bosnischen Muslime und Kroaten – er drohte ihnen unverblümt mit dem Weg in die Hölle und ins Verderben. Meine Mutter drehte sich plötzlich mit Tränen in den Augen zu meinem Vater um und sagte leise: „Es ist aus. Das ist der Krieg.“ Wir wollten und konnten es nicht wahrhaben. Einige Monate später klopfte der Krieg an unserer Haustür und veränderte mein und das Leben meiner Familie für immer.

„Du darfst leben und du nicht“

Der Krieg kommt dann immer mit seiner ganzen Wucht über uns alle – unerbittlich, grausam, wütend, zerstörend. Der Krieg ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, ein Affront gegen das Menschsein. Der Krieg greift brutalst in die Pluralität des Menschen, indem er hineinruft: „Du darfst leben und bleibst verschont. Du aber, der du das Andere bist, musst sterben.“

Am 31. Mai 1992, inmitten des bereits entflammten Krieges in Bosnien und Herzegowina, erließen die serbischen Behörden in meiner Heimatstadt Prijedor im Nordwesten Bosniens einen Aufruf an alle nichtserbischen Haushalte, sich selbst und ihre Wohnungen und Häuser mit weißen Bändern und Tüchern zu kennzeichnen. Damit wollten die serbischen Behörden genau dies sagen: „Du darfst leben und du nicht, du bist der Andere, du musst sterben, dich beugen, egal was wir mit dir anstellen mögen.“ Ja, genau das war die Botschaft der serbischen Behörden meiner Stadt, die sie uns am 31. Mai vor dreißig Jahren mitteilten.

Meine Mutter war verängstigt und hisste ein weißes Tuch aus dem Fenster. Der Vater hatte Angst, war aber auch zornig und stolz, wollte es selbst nicht tun. Wir Kinder, mein Bruder und ich, waren nur stumme Zeugen des Dramas. Die weiße Bettwäsche aus dem Fenster war dann das letzte Zeichen, dass das frühere Leben längst vorbei ist. Immer wieder, zuletzt mit dem Beginn des Ukraine-Krieges, konnte ich dieses Gefühl von damals spüren, die Momente, als die Angst in mich hineinkroch und die letzten Winkel meines Körpers erreichte. Doch man funktioniert, man wird zu einer Überlebensmaschine, die vom Wunsch nach Leben und der Hoffnung auf den Frieden und die Sicherheit angetrieben wird.

Der Krieg kommt immer mit seiner ganzen Wucht über uns alle – unerbittlich, grausam, wütend, zerstörend.

Die Mutter wird in den Tagen und Wochen dieses Frühsommers 1992 immer wieder mit anderen Frauen aus der Stadt nach Trnopolje fahren, meinem Großvater und seinen beiden Söhnen, meinen Onkeln, die im Konzentrationslager in meinem Dorf gefangen gehalten wurden, das Essen vorbeibringen. Noch heute schweigt die Mutter über das, was sie in Trnopolje sah. Sie erwähnt immer nur die Gesichter und die Augen ihrer ehemaligen Arbeitskollegen, die im Sommer nach der Schließung des Todeslagers in Omarska nach Trnopolje verlegt wurden. Ihre Augen sagten alles. Wir blieben bis Jänner 1993 in der Stadt, die nicht mehr unsere war. Eines kalten Morgens verließen wir die Stadt. Ich drehte mich ein letztes Mal um und schwieg. Am Ende des Krieges wird man 3167 getötete Menschen in Prijedor zählen, darunter 102 Kinder.

Seit Jahren versammeln sich Opfer und zahlreiche Mitbürger und Mitbürgerinnen in meiner Heimatstadt am 31. Mai und begehen den „Tag der weißen Bänder“, der mittlerweile international neben den Gedenkfeiern zum Genozid in Srebrenica als einer der wichtigsten Erinnerungsmomente gilt. Dieses Jahr marschierten am Tag zuvor serbische Verbände in den Straßen von Prijedor und feierten die angebliche „Befreiung der Stadt“ durch die serbische Armee und Polizei. Die weißen Bänder bezeichneten sie als Lüge. Die serbisch dominierten lokalen Polizeibehörden verboten kurzfristig den schon traditionellen Erinnerungsmarsch der Opfer und erlaubten nur eine einstündige Kundgebung am Hauptplatz. Am Vormittag wollten dubiose serbische Vereine in der Stadt noch öffentlich den Geburtstag von Viktor Orbán und Željko Mitrović, dem Besitzer des größten privaten und regimenahen Fernsehnetzwerkes in Serbien, feiern. All dies deutet darauf hin, dass die serbischen Behörden damit ein eindeutiges Zeichen setzen wollten – das ist nun unsere Stadt, das ist unsere Wahrheit, wir akzeptieren das Faktische des Geschehenen in den Kriegsjahren nicht und verleugnen die Verbrechen.

Bosnien Krieg Opfer - Der Krieg forderte in Prijedor 3167 Todesopfer, darunter 102 Kinder. - © Foto: APA / AFP / STR
© Foto: APA / AFP / STR

Der Krieg forderte in Prijedor 3167 Todesopfer, darunter 102 Kinder.

Wahrheit ist nie umsonst Aber: Die Wahrheit und die Fakten können nicht ausgelöscht werden. Gegen Verbrechen Stimme erheben, sich erinnern, gegen Hass ankämpfen – das sind universelle Werte, die man sich in Bosnien, auf dem Balkan, in der Ukraine, überall auf der Welt nicht wegnehmen lassen wird. Wahrheit ist nie umsonst. Das Ankämpfen gegen das Vergessen ist nicht umsonst. Wahrheit und Gerechtigkeit haben keine ethnischen Vorzeichen, trennen die Menschen nicht aufgrund dessen, was sie sind oder was ihnen zugeschrieben wird. Sie sind absolut und unverrückbar, universell. 30 Jahre danach stehen wir da und fragen uns alle immer wieder, woher wir die Hoffnung schöpfen, wo wir Zuversicht und Trost finden sollen, dass es in Prijedor, in Bosnien, auf dem Balkan – aber auch in der Ukraine nach dem Krieg, der einmal zu Ende sein wird – bessere Zeiten geben wird?

Heilt die Zeit die Wunden? Der ungarisch-jüdische Dichter Miklós Radnóti, der 1944 in einem Lager in Bor in Serbien interniert war und in diesem Jahr beim Todesmarsch der Nazis starb, schrieb in einem seiner Gedichte: „Die Zeit heilt, heisst es oft – Doch Zeit hat nie geheilt – Beim Älterwerden stärkt sich Wie Sehnen, echtes Leid –“

Dennoch, wir brauchen Hoffnung und Trost, die eng miteinander verknüpft sind. Der ehemalige Rektor der Central European University, Michael Ignatieff, schrieb in seinem jüngst erschienenen Buch „Über den Trost in dunklen Zeiten“ folgende Zeilen: „Der wesentliche Teil des Trosts ist Hoffnung: der Glaube, dass wir uns von Verlusten, Niederlagen und Enttäuschungen erholen können und dass wir in der Zeit, die uns bleibt, so kurz sie auch sein mag, die Möglichkeit zu einem Neubeginn finden werden, mit dem wir vielleicht scheitern, aber, wie Beckett schrieb, besser scheitern werden. Es ist diese Hoffnung, die uns die Kraft gibt, selbst angesichts von Tragödien unbeugsam zu bleiben.“

Worte der Hoffnung

Für die Toten von Prijedor, die Toten von Butscha, für all die unschuldigen Toten aller Kriege, für sie alle halten wir die Erinnerung hoch und flüstern leise zu uns selbst und zur ganzen Menschheit die Worte, die von Hoffnung zeugen, dass eines Tages ein Neubeginn möglich sein wird, dass ein anderes, besseres, gerechteres Bosnien möglich sein wird, in dem man sich frei an die Vergangenheit, egal wie schmerzvoll sie ist, erinnern wird können, in dem man sich der Zukunft erfreuen wird, in dem das Menschsein und die Liebe zu Mitmenschen gegen Hass, Ausgrenzung und menschliche Grausamkeit den Sieg davontragen werden. Davon träume ich an diesem Tag.

Der Autor ist Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP).

Fakt

Tag der weißen Bänder

Am 31. Mai 1992 erließen die bosnoserbischen Behörden der Stadt Prijedor im Nordwesten Bosnien und Herzegowinas ein Dekret, wonach alle nichtserbischen Bewohner Prijedors dazu verpflichtet waren, ihre Häuser mit weißen Fahnen oder Tüchern zu markieren und ein weißes Armband zu tragen, wenn sie ihre Häuser verließen. Dieser Erlass markiert den Beginn einer Vernichtungskampagne, die zu Massenerschießungen, der Errichtung von Konzentrationslagern, Massenvergewaltigungen und Vertreibung führte.

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