Pashinyan - © Foto: Imago / Zuma Wire

Wahlen in Armenien: „Müssen einen Bürgerkrieg verhindern“

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Am Sonntag finden die vorgezogenen Parlamentswahlen in Armenien statt. Nach der Niederlage im Bergkarabach-Krieg ist die Stimmung aufgeheizt wie nie zuvor. Experten halten Unruhen für möglich.

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Am Sonntag finden die vorgezogenen Parlamentswahlen in Armenien statt. Nach der Niederlage im Bergkarabach-Krieg ist die Stimmung aufgeheizt wie nie zuvor. Experten halten Unruhen für möglich.

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Nikol Paschinjans Verzweiflung muss groß sein: Armeniens Premierminister hat dem verfeindeten Aserbaidschan seinen eigenen Sohn im Austausch gegen Kriegsgefangene angeboten. Ob es eine enttäuschte Reaktion auf den Status Quo, ein dreiviertel Jahr nach dem aufgeflammten Krieg in Bergkarabach ist, oder auf die vorhergesagte Zitterpartie für den Amtsinhaber, bleibt unklar.

Klar ist: Armenien steht vor einer der schwierigsten Wahlen seit seiner Unabhängigkeit 1991. Insgesamt 26 Parteien sind im Rennen, mehr als je zuvor. Die politische Situation war nie sonderlich stabil, Proteste – mitunter gewaltsam – zählen fast zum Tagesgeschäft. Erst 2018 gab es den letzten großen Umbruch, nachdem die friedliche „samtene Revolution“ des früheren Journalisten Paschinjan den korrupten Langzeitpräsidenten Sersch Sargsjan, der fließend zum Premierminister wechseln wollte, aus dem Amt spülte. Es folgten die ersten freien Wahlen seit 1989, bei der die zuvor regierende Republikanische Partei mit unter fünf Prozent aus dem Parlament flog. Der strahlende Sieger war Paschinjan, dessen Wahlbündnis auf satte 70 Prozent der Stimmen kam.

Nun muss er von Glück reden, wenn er mit Ach und Krach Premier bleiben kann. Umfragen geben seinem Bündnis zwischen 20 und 25 Prozent. Was war geschehen? Zum einen hat er fast alle seine Versprechen gebrochen, sagt Boris Navasardian, langjähriger Journalist und Präsident des Eriwaner Presseclubs. Wichtiger noch: Bergkarabach - jener Konflikt, der im Sommer wieder aufgeflammt ist und Ende September 2020 zum Krieg ausartete. Nicht zum ersten Mal, aber so schlimm wie seit Jahrzehnten nicht.

Konflikt um Bergkarabach

Das 4.392 Quadratkilometer kleine Bergkarabach wird seit mehr als 100 Jahren von Armenien wie von Aserbaidschan beansprucht. Nach dem Zerfall des russischen Zarenreichs 1917 wurden Armenien und Aserbaidschan kurzzeitig unabhängig, gingen 1922 aber in der Sowjetunion auf. Stalin entschied, Bergkarabach trotz mehrheitlich armenischer Bevölkerung der Sowjetrepublik Aserbaidschan zuzusprechen. Zwar als autonome Oblast, aber gegen den Willen der armenischen Mehrheitsbevölkerung. Zu Zeiten der Sowjetunion blieb der Deckel auf dem Konflikt. Erst Ende der 1980er Jahre kochte er wieder hoch, als blutige Proteste, Pogrome und Kampfhandlungen paramilitärischer Milizen auf beiden Seiten ausbrachen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion rief sich Bergkarabach als autonome Republik aus, Aserbaidschan erklärte daraufhin Armenien den Krieg. Zwischen 1992 und 1994 verloren mehr als 30.000 Soldaten und Zivilisten ihr Leben, mehr als eine Million Aseris wurde von den damals überlegenen Armeniern vertrieben.

Jahrelange Friedensgespräche brachten keine Lösung, was sich letztes Jahr bitter rächte. Nach 44 Kriegstagen, Bombardements von Städten und Dörfern, mindestens 7.000 toten Soldaten und etlichen zivilen Opfern herrscht seit 9. November ein Waffenstillstandsabkommen. Putin hat 2.000 russische Soldaten an den Konfliktlinien stationiert, die für mindestens fünf Jahre bleiben sollen. Die meisten Beobachter stuften den Vetrag als Kapitulation Armeniens ein, das militärisch massiv unterlegen war. „Das ist kein Sieg, aber wir werden uns niemals als besiegt betrachten. Dies wird der Beginn unserer Wiedergeburt werden“, sagte Paschinjan. Dennoch versuchten hunderte Demonstranten die Absetzung des Premiers zu erzwingen, wollten ihn gar lynchen. Dies gelang nicht, der armenische Präsident ließ aber vorgezogene Neuwahlen des Parlaments ausrufen, vor denen Armenien nun steht.

Außergewöhnliche Wahl

„Es ist eine außergewöhnliche Wahl: Weil es die erste nach dem Krieg ist. Und weil mehr Parteien als je zuvor teilnehmen“ sagt Gevorg Poghosyan, Politikexperte und Soziologe an der Armenischen Akademie der Wissenschaften. Wiewohl die allermeisten der neuen Kleinparteien den Einzug ins Parlament nicht schaffen dürften. Die Wahlallianz Paschinjans und die seines Herausforderers Robert Kocharjan dürften annähernd gleich viele Stimmen erhalten, schätzt Poghosyan. Auch Umfragen bestätigen diese Prognose, wobei in Armenien immer wieder politische Erdbeben möglich sind.

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