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Die Trauer ist uferlos
Besonders prophetisch Begabte orakeln zur Zeit über Gorbatschows Zukunft. Der Gewalteinsatz Moskaus im Kaukasus, um die aufeinander losschlagenden Aserbeid-schaner und Armenier auseinanderzuhalten, öffnet Spekulationen über ein Scheitern der Perestrojka Tür und Tor.
Eine falsche, von einem fast unentwirrbaren Knäuel historischer Fehlentscheidungen geprägte Nationalitätenpolitik der Moskauer Zentralmacht hat nicht nur die Trauer Armeniens, die nach seinem Dichter OvanesTumayan ein „ufer-loses Meer" ist, vermehrt, sondern der Opfergeschichte jahrzehntelang brutal unterdrückter Sowjetvölker ein neues Kapitel hinzugefügt.
Der von Gorbatschow abgesegnete Militäreinsatz in Aserbeid-schan war vielleicht die letzte Möglichkeit, die Perestrojka zu retten und die Armenier vor dem selbst befürchteten neuen Genozid (1915 waren sie Opfer des ersten Völkermordes im 20. Jahrhundert seitens der Türken) zu bewahren. Das sieht auch der in Wien residierende Bischof für die armenische Diözese Mitteleuropa, Mesrob Krikorian, so. Gegenüber der FURCHE bezeichnete er den Gewalteinsatz Moskaus im Kaukasus als „legitim, um noch größere Gewalt zu verhindern".
Das armenische Trauma des von Türken verursachten Völkermords während des Ersten Weltkrieges ist in Krikorians und den Aussagen aller aufgebrachten Armenier gegenwärtig, die auf eine zweihundertjährige Freundschaft mit dem russischen Volk, auch mit der Sowjetmacht seit 1920, zählten und nun - besonders seit Beginn des Kampfes um Arzach (Berg-Kara-bach) im Februar 1988 (FURCHE 11/1988) - von Moskau zunehmend enttäuscht wurden.
Die türk-aserbaidschanischen Massaker an Armeniern von Sum-gait, Schamchor, Kirowabad und jetzt Baku haben uralten Vertrei-bungs- und Ausrottungsängsten der Armenier neue Nahrung gegeben.
„Wir haben es früher nur vermutet, aber durch offizielle Äußerungen Teherans ist es jetzt ganz klar, daß der Iran - die Mullahs - die Aserbeidschaner unterstützt", betont Krikorian, der nur vermuten kann, warum der Kremlchef eine wenig armenierfreundliche Nationalitätenpolitik betreibt: „Gorbatschow verhält sich aus irgendeinem Grund ablehnend gegenüber den Armeniern. Entweder ist er auf uns zornig, weil wir - ein kleines Volk - als erste mit dem Karabach-Problem die nationale Frage aufs Tapet brachten, oder weil wir radikal ökologische Themen im Sowjetstaat anschnitten. Möglich ist auch eine Warnung seitens des Iran oder der Türkei, die moslemischen So-wjetvölker in Ruhe zu lassen."
Jedenfalls hat Gorbatschow - so Krikorian - einen kapitalen Fehler begangen, als er ausgerechnet am 28. November 1989, am Vortag der offiziellen Feiern in Armenien zur Gründung der armenischen So wj et-republik (am 29. November 1920), „zynisch, brutal, psychologisch unklug" die Aufhebung der seit 1988 bestehenden direkten Verwaltung Berg-Karabachs durch Moskau verkündete und die armenische Enklave wieder der aser-beidschanischen Administration unterstellte.
„Ab diesem Zeitpunkt sind die Aserbeidschaner noch frecher geworden. Sie glaubten Gorbatschow hundertprozentig auf ihrer Seite und machten nun mit den Armeniern, was sie wollten."
Das politische Vertrauen der Armenier in den Kreml ist fast gänzlich dahin. „Für uns Armenier gibt es momentan aber keine andere Lösung, als im Sowjetverband zu bleiben, weil wir als kleines Volk eine Schutzmacht brauchen. Wenn es Völker gibt - wie die Balten, die Georgier - und Republiken - wie die islamischen -, die die Sowjetunion verlassen wollen und glauben, daß es für sie so besser ist, dann sollte es so sein. In diesem Falle plädiere ich trotzdem für einen Extra-Pakt Armeniens mit Rußland. Wäre ich Angehöriger einer islamischen Republik, würde ich dafür beten, daß uns die Russen weiter helfen. Aber es ist deren Sache, wenn sie wegwollen. Die Russen sollten sie ziehen lassen. Rußland könnte dann vorteilhaft mit ein paar Ländern auf freiwilliger Basis wirtschaftlich, politisch, militärisch und kulturell zusammenarbeiten. Da könnte tatsächlich so etwas wie die NATO oder die EG entstehen."
Trotz aller Niedergeschlagenheit blitzt Zuversicht aus Krikorians Aussagen. Er meint, daß Gorbatschow „offensichtlich seine Fehler - langes Zuwarten, Verhaftung des Arzach-Komitees, Brüskierung von Vertretern Armeniens - eingesehen und mit einem begrenzten Gewalteinsatz in letzter Minute ein chaotisches Auseinanderfallen des Sowjetreiches verhindert hat".
Ohne politische Lösungen - neue Verträge mit den Teilrepubliken, Wende in der Nationalitätenpolitik - droht im Kaukasus ein Guerillakrieg. In Verbindung mit dem islamischen Fundamentalismus könnte ein Flächenbrand entstehen. Noch besteht die Möglichkeit der russischen Zentralmacht, durch geschickten Rückzug einen freiwilligen Unionsverband zu schaffen und nicht mehr tragbare Lasten (die islamischen Republiken?) loszuwerden.
Für Bischof Krikorian war es schon „eine Überraschung", daß Gorbatschow doch noch Militär im Kaukasus eingesetzt hat. Jetzt bedarf es neuer Überraschungen: Echte Demokratisierung durch Ermöglichung eines Mehr-Parteien-Systems und Freiheit für austrittswillige Völker.
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