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An den Rand geschrieben

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DER AUSBRUCH. Wenn es auch nicht ganz so schlimm war, wie es viele Wiener Blätter am nächsten Morgen — alle weltpolitischen Probleme nichtachtend — erscheinen ließen, wenn auch das Fußballstadion nicht ausbrannte und der Polizist sein Auge nicht verlor, wenn auch Britanniens und Portugals Botschafter ob der Zerreißung ihrer Staalsfahnen nicht gleich Kanonenboote auffah- ren ließen … schlimm genug war er: der Skandal, den sich die Wiener Fußballenthusiasten beim Spiel gegen die Portugiesen leisteten. Man wird das erste Glied in der Kette der Reaktionen kaum mit Sicherheit feststellen können. War es wirklich das Bemühen eines Rapidlers, den Mannschaftskollegen Dienst (selbst nicht eben den Zartesten auf dem Spielfeld) zu röchen, war es die aufreizende Hilflosigkeit des englischen Schiedsrichters… das sollen die Sporfredakteure untereinander klären. Ein Phänomen aber bleibt die brisante Energie, die hier plötzlich alle Dämme zersprengte. Eine Massenwut — der Massenbegeisterung eng verschwistert — brach sich Bahn. Die Ziele blieben für den kalkulierenden Verstand ebenso im Dunkel wie die Ursachen. Vergeblich blätterten wir die politische Chronik der zweiten Republik nach etwas Vergleichbarem auf anderem Gebiete durch: Nach einer wirklichen Demonstration, einem Ausbruch des Zorns, einer Willensmanifestation. Was wäre gewesen, wenn etwa das Denkmal der Republik am 1. Mai wirklich in die Luft geflogen wäre, wenn selbst das Parlament Feuer gefangen hätte? Man wäre n Scharen hingeeilt und hätte sich alles angeschaut. (Die Würstelmänner und die Salzstangelverkäuter hätten natürlich nicht gefehlt.) Aber aufgeregt, „alteriert” hätte sich kaum einer. Und den eigenen Schuh als Wurfgeschoß auf Nimmerwiedersehen hälfe wohl auch niemand geschleudert.

DER JULIUS IST WIEDER DA. Daß Julius Raab sich nach seinem Scheiden vom Kanzleramt nicht auf ein beschauliches Altenteil der Politik zurückziehen werde, war jedem von vornherein klar, der ihn nur einigermaßen kennt. Nun ist es ganz offiziell bekannt geworden, daß er die Präsidentschaft der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft übernehmen wird. Mit einigem Recht sieht er diese Institution als seine ureigenste Schöpfung an. Durch seine gleichzeitige Obmannschaft im Wirtschaftsbund wird er mit der ihm eigenen Initiative dafür sorgen, daß diese große Dachgemeinschaft der Selbständigen ein staatsbürgerlicher Gemeinschaftsfaktor bleibt und nicht zur liberalisti- schen Arbeitgebervertretung wird. Daß er jetzt auch, befreit vom Zeremoniell der Kanzlerschaft, die politische Klinge in der aktuellen Auseinandersetzung führen wird, bewies er mit einem temperamentvoll geschriebenen Leitartikel in der „österreichischen Neuen Tageszeitung. Die Journalisten haben einen neuen Kollegen gewonnen.

DAS WAHLPROGRAMM DER SPD:

„Wir werden die Wahlen gewinnen, weil wir regierungsfähig sind, weil wir verantwortungsbereit sind, weil wir selbstbewußt und entschlossen sind und weil wir siegen wollen." Im Tone etwas zu laut und etwas zu sicher verkündete Willy Brandt in Bonn das Regierungsprogramm der SPD. Seiner Überzeugung nach werde die SPD die Wahlschlacht 1961 gewinnen. Nach massiven Angriffen auf die Regierung Adenauer, der Brandt Sterilität, forcierte Rüsfungspolifik, Gefährdung der Demokratie, Schwäche und Opportunismus gegen Interessentengruppen, sträfliche Vernachlässigung von Forschung, Wissenschaft und geistigem Nachwuchs vorwirft, legte der Aspirant der SPD auf das Kanzleramt ein Wahlprogramm vor, das sich nur innenpolitisch von dem der CDU unterscheidet. Die hier vorgetragenen Versprechungen an Arbeiter und Angestellte, Rentner, Kriegsopfer, Heimafverfriebene, Sowjetzonenflüchtlinge und Kriegsgeschädigte, nicht ganz zuletzt auch on die Adresse der Kirchen (denen „Schutz ihrer Wirksamkeit und den Bürgern Glaubens- und Gewissenfrei- heit” zugesagt werden) haben bittere und ironische CDU-Kommentare wachgerufen: „Wer so viel verspricht wie Herr Brandt, ohne gleichzeitig zu sagen, woher das Geld kommen soll, muß den Wähler für dumm halfen.”

Brandt und der Brainfrust, der nach’ Kennedyschem Vorbild dieses Programm ausgearbeitef haben, halten wohl den Wähler nicht für dumm, sind aber selbst zu „gescheit": es fehlt hier jeder politische Eros, jede dynamische politische Weltanschauung. Ausgetüftelt, übersachlich wirkt dieser Katalog von Forderungen und Versprechungen. Der fiefe Zwiespalt, der durch die SPD gehl, deren alte und junge sozialistische Kader gegen das Make-up des Wehner-Brandt-Kurses sind, kam gleichzeitig in scharfen Reden von Gewerkschaftern der Brenner-Linie zum Ausdruck. Angesichts dieser in sich selbst so uneinigen Opposition hat Freunde und Gegner der SPD ein nicht geringes Unbehagen befallen…

AM FEIERTAGE. Gerade als die katholische Kirche den Gedenktag des heiligen Papstes Pius V. begann, der als ein glühender Vorkämpfer der Gegenreformation die „Ketzerkönigin’ Elisabeth I. mit dem Bannfluch bedacht und sie 1570 des Thrones für verlustig erklärt hatte, sfand Elisabeth II. (supreme governor der anglikanischen Kirche wie ihre Namensvorgängerin) dem heutigen Träger der Tiara gegenüber. Mit der Exkommunikation von einst erreichte die Auseinandersetzung des Heiligen Stuhls mit England ihren tragischen Höhepunkt, wurde der Bruch für damaliges Menschenermessen endgültig. Den Besuch der englischen Königin beim Papst bezeichnefe Johannes XXIII. selbst als die vorläufige Krönung des Verständigungsbemühens der katholischen und anglikanischen Christen von heule. Mit einer leichten zeremoniellen Verneigung des Hauptes begrüßten einander die Souveräne. Dann aber regierte nicht mehr das steife Protokoll, sondern die warme Herzlichkeit des Papstes, der der Privaf- audienz echten Gesprächscharakter verlieh. Zu einem Feiertag machten aber auch die Italiener den britischen Königsbesuch. Sie jubelten vor allem in Neapel dem Monarchenpaar in einer so enthusiastischen Weise zu, daß Elisabeth dem Vernehmen nach :hre Begleitung kopfschüttelnd immer fragte „Why?". Etwas kommoder soll dies Sachsens letzter König ausgedrücki haben, als er kurze Zeit nach seiner Absetzung durch die eben ersf von ihm „befreiten Dresdner Inkognito erkannt und akklamiert worden war: „Ihr seid mer scheene Republiganerl’

DIE NÄCHSTE ETAPPE. Daß in Laos für die Westmächte, besonders für die Amerikaner kaum viel mehr als ein Kompromiß zu erwarten sein wird, und das man nach dem praktisch gescheiterten Versuch der letzten Tage Eisenhowers, durch eine Rechtsregierung das neutralisierte Königreich in den westlichen Machtbereich einzubeziehen, froh sein muß, zum Status quo, nämlich zur Neutralität und nicht zum offenen Kommunismus zurückzukehren, ist nicht mehr zu leugnen. Für die Engländer, die nie etwas anderes für möglich hielten, sieht sich das natürlich lange nicht so katastrophal an wie für die USA, die ja einige Illusionen zu begraben haben. Unter Kennedy dauert solche unfruchtbare Trauer nicht eben lange. Man ist in mehreren Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats übereingekommen, Südvietnam und Thailand nun als jene Bastionen anzusehen, die unter allen Umständen für den Westen gehalten werden müssen. Und man sieht sehr richtig, daß der Kampf um das an sich nicht übertrieben bedeutungsvolle Laos ja nur die Basis für die kommunistische Großoffensive in ganz Südostasien schaffen soll. Hier aber gedenkt man nicht mit der bloßen Defensivstrategie und dem Bollwerkgeist alten Stils zu antworten, Gewiß werden sich die USA zur militärischen Verteidigung wie zur Wirtschaftshilfe an diese beiden Länder stark machen. Aber sie haben schon jetzt zu verstehen gegeben, daß dies allein nicht ausreiche. Die Freiheit in diesen beiden Staaten, die ja nichf nur ein Problem der Flottenparaden und Dollarhilfen darstellt, soll von innen her attraktiv gemacht werden. Sie soll ihrerseits in den kommunistischen Block hineinwirken. Dazu werden aber nicht zuletzt Reformen in Südvietnam selbst notwendig sein. Auch Diem, dessen halbdiktatorisches Regime nichf nur von Kommunisten kritisiert wird, hat hier zuzuhören.

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