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AUS MÄHRENS HAIN UND FLUR

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In der Taufmatrik der nordmährischen Gemeinde Richaltitz, Band V, Blatt 145, lesen wir: Täufling Leo Eugen Janatschek. Vater Georg Janatschek, Schullehrer in Hochwald, katholisch. Mutter: Amalia, Tochter nach Karl Gru-hch, Tuchner in Freiberg, und dessen Eheweib Katharina, geborene Wiesnar von Freiberg, katholisch. Getauft 4. July 1854. Geboren 3. July 1854, Hochwald No. 40. Getauft von Vinzenz Zatlaukal, Schloßkaplan. Hebamme, Taufpaten et cetera ...

Dieser Leo Eugen Janatschek war das neunte von 13 (nach anderen Quellen das siebente von elf) Kindern und schrieb seinen Namen später Leos Janäcek. Seinen Vater, der nicht nur Lehrer, sondern auch Organist in Hukvaldy war und den Bauern zum Tanz aufspielte, verlor er mit zwölf Jahren. Durch Fürsprache des Komponisten P. Kfizkowsky wurde der 13jährige Leos in die Stiftung des Altbrünner Augustinerklosters aufgenommen. In Brünn besuchte er die Volksund Realschule, darnach die Lehrerbildungsanstalt. Das Studium bezahlten (was die neueren tschechischen Janäcek-Biographen gelegentlich verschweigen) die Fürsten Thum und Taxis. 1872 macht er sein Lehrerdiplom und geht 1874 bis 1875 an die Orgelschule in Prag, wo er dem 13 Jahre älteren Antonin Dvofäk begegnet. 1879—1880 besucht er die Konservatorien von Leipzig und Wien, die keinen nachweisbaren Einfluß auf Janäceks späteres Schaffen ausgeübt haben. 1881 gründet er selbst eine Orgelschule, die 1919 Staatskonservatorium wird. Im gleichen Jahr heiratet er die schöne Tochter des Direktors der Lehrerbildungsanstalt, Zdenka Schulzova. Seine beiden Kinder verlor er früh. Den Tod seiner Tochter Olga (1903) hat er nie ganz verwunden.

In jenen frühen Brünner Jahren betätigte sich Janäcek als Leiter der Philharmonischen Gesellschaft, Kompositionslehrer am Konservatorium, als Chormeister des Vereines „Svatopluk“ und des Chores „Beseda brnenskä“. Daneben ist er mit wissenschaftlichen Arbeiten über Musiktheorie, Ästhetik, Psychologie, Phonetik und Folklore beschäftigt. 25 Jahre lang hat Janäcek die Lieder und Tänze des mährischen Volkes gesammelt. Sie wurden für ihn zur Grundlage eines reichen und vielgestaltigen Werkes, und sie waren der Jungbrunnen, aus dem er sich immer wieder erneuerte. „Wer aus dem Volkslied wächst“, hat Janäcek später einmal geschrieben, „der wächst zum ganzen Menschen heran“. Leos Janäcek erwuchs zu einem ganzen, charaktervollen Menschen — und zu einem großen Künstler, zum größten, den Mähren auf dem Gebiet der Musik hervorgebracht hat.

Der Einfluß der älteren tschechischen Komponisten Smetana und Dvofäk ist nur in den frühesten Kompositionsversuchen, meist Chören, spürbar. Die ganze westliche Musik, sowohl die Wiener Klassik wie die deutsche Romantik und Nachromantik, interessierten und beeinflußten ihn nicht. Auch dem französischen Impressionismus fühlte er sich nicht verpflichtet, und als der deutsche Musikforscher Riemann in seinem bekannten Lexikon ihn mit Debussy in Verbindung bringt, verlangt er eine Berichtigung („Die akkordische Freiheit habe ich schon vor Debussy verkündet“). Dieser zutiefst in seiner mährischen Heimat verwurzelte Mann, der täglich lange Spaziergänge machte und seiner Frau die Obst- und Gemüsekörbe vom Wochenmarkt nachtrug, war ganz dem Osten zugewandt. 1896 unternimmt er seine erste Rußlandreise, die ihn nach Nischni Nowgorod, Petersburg und Moskau führte. Auf der zweiten lernt er die weite Steppe und die Wolga kennen und vertieft seine Kenntnisse der russischen Sprache, deren Klassiker, vor allem Puschkin, Tolstoj und Dostojewsky er im Original lesen kann. Er kennt und schätzt die neuere russische Musik. Aber auch sie blieb ohne wesentlichen Einfluß auf sein eigenes Schaffen. (Die Partitur von Mussorgskys „Boris“, der man immer wieder entscheidende Einwirkungen auf Janäceks Operntechnik nachsagte, hat er — wie sein Biograph Jan Racek nachgewiesen hat — erst in seinen letzten Lebensjahren kennengelernt.)

Tanäcek war ein Spätgereifter. Seine wichtigsten Kompositionen (sieben von den neun Opern, die „Sinfonietta“, die „Glagolitische Messe“, das „Tagebuch eines Verschollenen“, die beiden Streichquartette und die schönsten Lieder und Chöre) hat er nach dem vierzigsten Lebensjahr geschrieben. So lange brauchte er zur Ausbildung und Festigung seines Personalstiles. Dieser beruht auf der melodischen Nachbildung der „musikalischen Sprachmotive“ — einer Technik, die Janäcek in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten auch theoretisch untermauert hat. Janäcek hat unzählige solcher Sprachmelodien rhythmisch genau aufgezeichnet und war ständig auf der Jagd nach neuen. Dabei gelingt ihm eine höchst originelle, einmalige Synthese von realistischer und heftig expressiver Tonsprache. Diesen Sprechstil, das quasi Deklamatorische, finden wir auch in den meisten seiner Instrumentalwerke. Merkwürdige Gegensätze stoßen da aufeinander und bedingen jene Spannung, die das Anhören der Musik Janäceks so erregend macht. Er war als Künstler ganz von der Inspiration abhängig — wie die Romantiker. Das Handwerkliche, die satztechnische Arbeit, galt ihm wenig, obwohl (oder vielleicht gerade weil) er auch darin ein Meister war. Sein „Expressionismus“ verführte ihn aber keineswegs zu exzessiven Formen: Janäcek ist stets um den knappsten Ausdruck bemüht, der ihm trefflich gelingt. An der Tonalität — freilich einer der mährischen Volksmusik entsprechenden, modal abgewandelten — hat er stets festgehalten. Der häufige, zuweilen abrupte, meist aber fließende Wechsel der Tonarten bedingt, daß der Hörer nur selten das Gefühl hat, Musik in den ihm vertrauten Dur- und Moll-Tonarten zu hören.

Mit dem, was man „moderne Musik“ nennt, hängt Janäcek eigentlich nur durch seine Traditionslosigkeit sowie durch das Konzise und Aphoristische seiner Tonsprache zusammen. Er gehörte zu keiner Gruppe, keiner künstlerischen Partei, sondern war ein Eigensinniger, ein Einzelgänger. Sogar innerhalb der tschechischen Musik galt er als provinzieller Außenseiter. Stellt man noch seine allem Betrieb abholde Natur und sein schwieriges Wesen, vor allem seine Neigung zum Jähzorn, in Rechnung, so nimmt es nicht wunder, daß der Ruhm sich erst spät einstellte — etwa nach dem 60. Lebensjahr. Im Kreis der Eingeweihten war sein Name schon vorher ein Begriff. So finden wir Werktitel von Janäcek auf den Konzertprogrammen der Musikfeste der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) von Salzburg (1923), Venedig (1925) und Frankfurt am Main (1927). Für die Lösung des Formproblems „Oper“ hat er ganz eigene Lösungen gesucht und gefunden. Für seine Musikdramen wählte er — im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Komponisten — durchweg wertvolle und interessante Texte. „Jenufa“ schrieb er 1894—1903 nach dem fast unveränderten, nur leicht gekürzten Text „Jeji pastorkyna“ von Gabriele Preiss, „Die Ausflüge des Herrn Broucek“ 1908—1917 nach Svatopluk Cechs gleichnamigem Stück, „Katja Kabanowa“ 1919—1921 nach Ostrowskijs „Sturm“, „Das schlaue Füchslein“ 1921—1923 nach einem Libretto von , Rud. Tesnochlidek, „Die Sache Makropulos“ 1923—1925 nach einem Stück Karel Capeks und „Aus einem Totenhaus“ 1927—28 nach Dostojewsky.

Die äußere Erscheinung dieses großen Künstlers hat der Berliner Musikkritiker H. H. Stuckenschmidt, der ihm wiederholt begegnet ist, folgendermaßen beschrieben:

„Janäcek ist ein kleiner, zart gebauter Slawe, der erst im reifen Lebensalter etwas in die Breite ging. Er hatte rasche, zierliche Bewegungen, war überhaupt ein rasch reagierender und auffassender Mann, physisch wie intellektuell. Der große, hochstirnige Kopf trug eine schwer zu bändigende Lockenmähne. Bis zum 20. Lebensjahr ging Janäöek glattrasiert; vier Jahre später umrahmt Mund, Kinn und Backen ein üppiger Vollbart. So zeigt ihn 1881 das Bild von der Hochzeit mit Zdenka Schulz...; das junge Paar ist wie von Renoir gemalt, von romantischer Eleganz und dabei mit einem rührenden Stich ins Provinzielle und Empfindsame, wie es dem tschechischen Wesen entspricht. Seit 1890 trägt Janäiek das Kinn wieder frei, der kräftige Schnurrbart gibt dem Kopf den stolzen, etwas katerhaften Zug, der sich im Alter verstärkt. Um 1920, nach dem europäischen Erfolg der ,Jenufa', sah man seine auffallende Erscheinung auf vielen

Partiturseife aus der Oper „Das schlaue Füchslein“ Musikfesten. Er wirkte mit dem mächtigen Kopf, dem nun ganz weißen, buschigen Haar, dem Schnurrbart und den klugen, etwas träumerischen Augen wie ein alter gütiger Gelehrter.“

In der Tschechoslowakei, speziell in Brünn, geschieht alles nur Mögliche zur Förderung und Erforschung von Janäceks Werk. Es gibt eine Janäcek-Gesellschaft, eine Janäcek-Stiftung, eine Janäcek-Oper und eine Janäcek-Akademie der musischen Künste. Anläßlich von Janäceks 100. Geburtstag und zum Gedenken an seinen 30. Todestag fanden 1954 und 1958 in Brünn zyklische Aufführungen fast aller seiner Werke sowie wissenschaftliche Kongresse statt, deren Referate der Analyse und Erforschung von Janäceks Werk gewidmet waren. Was aber wichtiger ist: Janäceks Musik hat sich seit seinem Tod viele Konzertpodien, seine Opern sich die meisten großen europäischen Bühnen erobert.

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