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„König Hirsch“ und seine Jäger

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Vierzig Vorhänge, ein etwa halbstündiger Applaus, unterbrochen und provoziert durch heftige Gegendemonstrationen einer kleinen, aber lautstarken Gruppe von Jugendlichen, meist Studierende der Akademie, die wiederholt bereits die Aufführung gestört hatten, heftige Auseinandersemingen und Diskussionen, die sich, im Foyer und auf der Straße, bis lange nach Mitternacht hinzogen und in die auch der Intendant der Städtischen Oper, Professor Ebert, eingriff: das war das äußere Bild und Ergebnis der mit Spannung erwarteten Premiere der Oper ..König Hirsch“ von Hans Werner H e n z e, ein Kunstereignis, dem unter anderen mehr als hundert Musikkritiker ' aus der ganzen Welt beiwohnten. — Dann, einige Tage später, bei der zweiten Aufführung in der Städtischen Oper und vor „normalem“ Publikum, verlief alles auf einmal ganz „normal“: keinerlei Störungen und Zwischenrufe, starker Beifall nach den einzelnen Akten und lebhafte, wohlverdiente Ovationen am Schluß für alle Ausführenden und den Komponisten, der, knapp dreißigjährig, wohl das größte Talent unter den jüngeren Deutschen ist. Woher also der Tumult, die Aufregung?

Von welcher Seite immer man Text und Musik dieser Oper betrachtet — sie bieten eigentlich keinerlei Angriffspunkte. Der Stoff' stammt von Gozzi (II re cervo), das Textbuch von Heinz von Cramer. Es ist ungewöhnlich umfangreich, poetisch, vielschichtig und symbolhaltig, mit Anklängen an die Welt Raimunds und die „Zauberflöte“, an Shakespeares „Sturm“,v die „Frau ohne Schatten“ und. in der sprachlichen Diktion, zuweilen an Hcfmannsthals „Turm“. Das Hauptmotiv Gozzis stammt aus einem persischen Märchen und handelt von einem guten, menschenfreundlichen König und seinem bösen Statthalter als Gegenspieler, der seinen Herrn in jenes Abenteuer treibt, das den tragischen Hinter- und Untergrund der märchenhaften Fabel bildet: es ist der immer wieder gemachte Versuch des Menschen, aus seinen Grenzen auszubrechen, hier die freiwillige Verwandlung des Königs in eines jener Waldtiere, unter denen er, ausgesetzt, seine Kindheit verbracht hat. Aher diese gewaltsame „Grenzüberschreitung“, verzweifelt und frevelhaft zugleich, bedeutet keine Lösung: Liebe bringt den König zur Rückkehr und Rückverwandlung in einen Menschen und zu dem Entschluß, das auf sich zu nehmen, was Menschen-los ist. Dies Motiv ist verwoben in eine märchenbunte Handlung, in der es redende Statuen und eine als regenbogenfarhenen Papagei verkleidete Tänzerin gibt, in der sechs Clowns unter dem Titel „Die Erfinder“ (gemeint sind wohl die Künstler!) ihr Wesen .treiben, wo eure teilbare Frauensperson

(Scollatella I bis IV) glitzernde Koloraturen singt, wo wilde Jäger mit Pfeil und Bogen über die Bühne stürmen, wo man „Stimmen des Waldes“ hört und „Windgeister“ vorüberschweben sieht. ,.

Die Musik, die Henze zu dieser seiner ersten „großen“ Oper schrieb, macht es dem Hörer nicht ganz leicht. Zwar behauptet der Künstler, durch seinen langen Aufenthalt in Italien („König Hirsch“ wurde während der letzten drei Jahre auf Ischia geschrieben) ein neues Verhältnis zum Melos, zum „Natürlichen“, zur Musik überhaupt gewonnen zu haben; aber was wir da an Arien, Ensembles, Kan-zonen und Ritornellen hören, ist immer noch, vor allem harmonisch, von großer und verwegener Kompliziertheit. Diese Schwierigkeiten werden kompensiert durch einen Klangsinn, eine Virtuosität der orchestralen Koloristik, die bezaubert und die, neben der unbedingten Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit seines Künstlertums, vielleicht die stärkste Komponente von Henzes Begabung ist. Hinzu kommt ein Sinn und das Darstellungstalent für alles Märchenhafte, Irreale, Magische und Vegetative, das, von Akt zu Akt, immer mehr überzeugt und fasziniert. — Drei Jahre sind für einen jungen Künstler, der in einem kontinuierlichen Reifeprozeß steht, eine lange Zeit. Das merkt man an dieser Partitur, die übrigens eine der umfangreichsten ist, die während der letzten dreißig Jahre für die Opernbühne geschrieben wurden. Daher glaubte man — ein künstlerisch anfechtbares Unterfangen — bei der Premiere bereits radikal streichen zu müssen. Dadurch mag das Werk an Theaterwirksamkeit gewonnen haben, es verlor aber sicher an Organik und innerem Reichtum. Die Inszenierung Leonard Steckeis unter der musikalischen Leitung Hermann Scherchens, eines der besten Interpreten neuer Musik, mit den suggestiven, surrealen Bühnenbildern Jean Pierre Ponnelles verdient höchste Anerkennung. Die Darsteller der männlichen Hauptpartien, des Königs und des Statthalters (Sandor Konya und Tomislav Neralic) befriedigten mehr stimmlich als schauspielerisch. Dagegen waren die weiblichen Hauptrollen mit Helga Pilarczyk als Mädchen, Nora Jungwirt als Scollatella I und der Tänzerin Friedel Herfurth als Papagei glänzend besetzt. Aber das alles konnte einigen Jugendlichen nicht imponieren. „Wir wollen .Lohengrin'!“ riefen sie am Premierenabend und bewiesen damit, daß sie hinter der Zeit ein wenig zurückgeblieben sind, weiter jedenfalls, als das hellhörige Berliner Publikum, das am zweiten Abend das Opernhaus bis auf den letzten Platz füllte und durch seinen Applaus ein Werk und eine Aufführung von hohem künstlerischem Rang ehrte:

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