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Milieuseelsorge

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Seelsorge in nener Welt. Von Viktor Schurr. Verlag Otto Müller, Salzburg. 380 Seiten. Preii 94 S

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Seelsorge in nener Welt. Von Viktor Schurr. Verlag Otto Müller, Salzburg. 380 Seiten. Preii 94 S

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Die neue Welt? Kennen wir sie? Jedenfalls ist es die, in der wir leben; die jeden in ihren Bann zieht, ob er will oder nicht; ob sie ihm den Atem nimmt oder ob er sie durchsteht, wie man Benzingestank und Lärm hinnimmt, einfach weil wir ihnen nicht mehr entrinnen können. Diese Welt hat aber auch einen seelisch-geistigen Atem jenseits aller Bazillen und Lichtreklamen. Auch dieser wird eingesogen. Zwar doktern Hygieniker und Seelsorger in Ordinationen und Beichtstühlen an den Patienten dieser verpesteten Luft. Aber sie entlassen sie wieder in sie hinaus. Sie können nicht anders Wirklich nicht? D a liegt das Anliegen dieses wertvollen Buches: Milieuseelsorge! „Die Menschen können vor dem Verfall nur gerettet werden zugleich mit der Gemeinschaft, in der sie leben“ S. 81. Noch deutlicher: als Josef Cardijn einmal gefragt wurde: „Fischen Sie mit dem Netz oder mit der Angel?" gab er zur Antwort: „Mit keinem von beiden. Wir suchen nur das Wasser zu ändern, damit die Fische leben können" S. 165. Der Verfasser beschränkt sich bewußt auf die Umwelt der Arbeiter, allerdings mit einer Begriffsbestimmung des Arbeiters, unter der die Mehrheit der Bevölkerung verstanden wird.

Den Fischen mag am besten geholfen sein, wenn ihr verschlammtes Wasser wieder erneuert wird. Der Menschenfischer aber wird das Milieu nur durch Menschen innerhalb dieses erneuern können. Daher das Programm des Verfassers: „Innerhalb der Gemeinschaft gibt die kleine Zahl der lebendigen Leute Eliten die Entscheidung. Der Stoß hat also weniger von außen her in die Umwelt hinein zu erfolgen, sondern von innen her ist der Lebensbereich zu wandeln: durch aktive Persönlichkeiten, die selber in der Menge anwesend sind" S. 63. Darum ist das zweite Anliegen des Autors die Erziehung eines starken missionarischen Laienapostolates. Die Bereiche, die heute die Menschen formen und meist verderben, sind dem Priester gar nicht zugänglich. Er kann planen und dirigieren, aber bauen kann man nur von unten her, mit Laien, die berufsmäßig in dieser Umwelt leben — wenn diese freudig und mündig zupacken. Für diese Aufgabe „bhnötigt der Laie kein anderes Mandat durch die Hierarchie als jenes, das mit dem Sakrament der Taufe, Firmung und Ehe gegeben ist“ S. 66.

Das Buch gibt nicht nur klare Richtlinien. Es stellt auch die Vorbilder hin. die „Mission de France", die „katholische Arbeiterjugend“ Cardijns, die katholische Landjugend, die Legio Mariae und ihre klare programmatische Arbeitstechnrk'. Ja es gibt, augenscheinlich' das Ergebnis langjährigen Studiums der Verhältnisse und der Erprobung, handfeste Anweisungen, wie man diese Eliten findet und ausbildet. Was er Seite 165 bis 199 an Schulung vorschlägt; kann auch den erfahrenen Arbeiterseelsorger noch bereichern und beglücken. — Wo so wesentliche Umstellungen in der Seelsorge notwendig sind.

darf niemand wehleidig sein. Viktor Schurr ist von einer befreienden Offenheit. Es soll niemand aufschreien, wenn er sich betroffen fühlt, sondern sich heilsam schockieren lassen. Schockkuren sind modern geworden. Hören wir auf einiges hin: „Die Erfahrung lehrt, daß die öffentliche Haltung einer .praktizierenden' Gemeinde ziemlich heidnisch sein kann“ S. 60. „Die Zeiten sind vorüber, da der Nimbus der Weihe alles überstrahlte: man muß ebenso Mensch wie Bevollmächtigter sein“ S. 77. Oder: gibt es ein treffenderes Konterfei manches katholischen Vereinslebens, dem der Pfarrer die Katholische Aktion überläßt, als das, welches der Verfasser so darstellt: die alten religiösen Vereine und Bruderschaften sind oft nur „gemütliche Kreise der religiösen Selbstversorgung“ S. 126. Ein neuer Pfarrer, der an die Frauenrunde die Aufforderung richtete, zu werben, erhielt die Antwort: „Ach, Herr Pfarrer, wir wollen gar nicht mehr sein; wenn Neue dazukämen, wäre es nicht mehr so schön wie bisher."

Das Werk ist eine der bedeutendsten Erscheinungen der pastoralen Sorge seit Jahrzehnten. An diesem Satz wird nichts zurückgenommen, selbst wenn man einige Bedenken und Wünsche an den Autor hat: der Glaube an die Statistik wird sinnlos, wenn es um Innerseelisches geht, ihre Antworten bleiben notwendig an der Oberfläche und sind oft genug zufällig. Der Arbeitertyp, mit dem Schurr nicht immer operiert, hat einen Begriff des Proletariers hinter sich, der zur Zeit des kommunistischen Manifests richtig war, aber es heute nicht mehr ist. Nur wo sich in Europa noch weite Landschaften sozialer Rückständigkeit finden, deren Pegelstand in demokratischen Staaten die Zahl- der kommunistischen Abgeordneten anzeigt, da gibt es hoch diese Proleten. Darum ist auch der französische Arbeiterpriester zum Beispiel auf deutschem Boden nicht recht möglich und würde vom Arbeiter selber als einer betrachtet werden, der einem Genossen nur den Arbeitsplatz wegnimmt. Bei einem solchen Kenner der französischen Verhältnisse fällt es auf, daß er das Werk Abbe Pierres nicht einmal erwähnt. Auch der Name P. Leppichs fällt nicht. Hier versucht doch einer, auch heute noch erfolgreich mit dem Netz zu fischen. Gerade die Milieubereinigung seiner Verkündigung darf nicht übersehen werden. Der Vorstoß Karl Sonnenscheins scheint unbekannt zu sein, das Beispiel Pastor Jacobs hätte mehrfach Ausgang sein können. An Literatur fehlt vieles, was Oesterreich zu den sonst ausgiebigen Bücherlisten des Werkes beisteuern könnte, zum Beispiel Bücher von Pfarrer Blieweis oder Professor Niedermeyer. Daß von Professor Meßner nur ein Zeitschriftartikel erwähnt wird, ist ein wirklicher Mangel.

Das alles ist aber kein Grund, das große Geschenk, das uns Viktor Schurr hier auf den Tisch legt, nicht mit Dankbarkeit zu quittieren.

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