6737591-1966_28_03.jpg
Digital In Arbeit

Plädoyer für Elite und Masse

Werbung
Werbung
Werbung

„Akademiker kann man heute kiloweise kaufen“, das ist heutzutage die „Volksmeinung“. In dieser Formulierung steckt aber nicht nur die Auffassung, daß Akademiker in Masse produziert werden, sondern die sie diskriminierende, daß sie käuflich sind.

Eine psychologische Erklärung dieses Abwertungsprozesses der Eliten liefert die Tatsache der Zerschlagung sozialer Gruppen und des Abbaues von Privilegien, wie sie durch Kriege, durch wirtschaftliche und politische Veränderungen im Laufe der letzten Jahrzehnte vor sich gegangen ist. An Stelle von Berufsidealen trat einfach — einerseits teilweise zum Zwecke der Existenzsdcherung, anderseits auf Grund des allgemeinen Trends — nacktes materielles Streben. Jedenfalls sind die vergangenen Jahrzehnte durch die „Fahnenflucht der Eliten“ (José Ortaga y Gasset) gekennzeichnet.

Im Berufsleben müssen zum Broterwerb Tätigkeiten verrichtet werden, denn Arbeit ist Broterwerb, und im gesellschaftlichen Sinn ist Arbeit Bedarfsdeckung, das heißt, auf Erzielung von Ertrag beziehungsweise Einkommen gerichtete körperliche und geistige Tätigkeit des Menschen. Aber geistige Tätigkeit, in der man sozusagen eine Wendung um 180 Grad vollziehen muß, das heißt, seine eigene Meinung und Gesinnung so negieren muß, daß man sich den gegnerischen Standpunkt und seine Verteidigung zu eigen macht, eine solche Einstellung wertet den Menschen und eine Bewegung, der er angehört, aib. Solches zu tun, macht den Beruf und schließlich auch die Mitgliedschaft zu einer Partei einfach zum „Job“. So wie das Eliten abgewertet hat, werden dadurch auch Parteien ahgerwertet.

Diktat der Kollektive

Die Demokratie ist in der Verbandsgesellschaft kollektivistisch, das heißt, sie beruht auf dem Einfluß organisierter großer oder finanzkräftiger Gruppen. Diese „pressure groups“ sind vielschichtig, und oftmals ist es das Bild jeder Gruppe in sich gleichfalls. Das ist verständlich, da ja eine Vielfalt von Interessen — sehr oft gegensätzlicher Natur — gegeben ist. Das Eingreifen dieser Kollektive in das politische Spiel und auch in den Wirtschaftsprozeß behindert die Manövrierfähigkeit eines demokratischen Regimes. Die Macht der Kollektive wirkt in zweierlei Richtung:

Erstens: Ihre Ansprüche übersteigen oft den partikulären Interessenschutz, sie maßen sich allgemeine Werturteile an und stellen Forderungen im vorgegebenen Allgemeininteresse. Je .größer und einflußreicher ein Verband, desto verlockender die Versuchung, sich Repräsentanz für das Ganze, den Staat, das Volk allgemeinhin, anzumaßen. Geschieht dies, so muß er früher oder später in Widerspruch zu dem Staatsganzen kommen.

Zweitens: Sie zwingen dem Menschen, dessen Interessenwahrung ihnen obliegt oder die sie sich anmaßen, oft sehr diktatorisch seine Verhaltensweise auf. Die Antwort ist Resignation, und aus den Verbänden werden „Monologe der Funktionäre und Manager“.

Ob er nun will oder nicht, der Mensch der Industriewelt ist heute in Kollektivblöcken zosammen- geschlosisen. Für alle Lebensbereiche gibt es Vereinigungen, und der Zugehörigkeit zu ihnen kann er sich nur schwer entziehen. Außerhalb dieser Organisationen ist der moderne Mensch hilflos und verlassen. Seine Interessen werden nur über ein Kollektiv wahrgenommen, denn als einzelner gilt er nichts — daran kann auch eine noch so individualistische Einstellung nichts ändern.

Der Apparat der großen Kollektive muß von Managern gehandhabt werden, wenn die Interessen eines Verbandes wirkungsvoll gewahrt werden sollen. So willkommen dem Menschen die Geborgenheit in diesen Kollektiven ist, so sehr sträubt er sich gegen die Bevormundung, die sie ausüben. Seine Abwehr gegen das Diktat der Massenorganisationen ist die Interesselosigkeit, die Organisationsmüdigkeit.

Das Ergebnis auf politischer Ebene ist, daß in dien modernen Staaten die gegensätzlichen Interessen und Anschauungen eine solche Intensität und Machtkonzentration erreicht haben, daß im öffentlichen Leben ein freies Spiel der Meinungen praktisch nicht möglich, ist, sondern die Austragung der Interessen zwischen festgefügten Interessenblöcken und Ideenfronten vor sich geht. Zum Vorteil für die Demokratie heben sich Verbandsinteressen und ihre Geltendmachung teilweise gegenseitig auf, so daß dem Übergewicht einzelner Institutionen entgegengewirkt wird.

Demokratie und Führung

Die entscheidende Frage ist: Verträgt eine Demokratie Führung durch eine Persönlichkeit oder soll sie kollektiv geleitet werden?

Nun bedarf jede Gemeinschaft einer Führung, die sich in einer Person konzentrieren muß, die die Gemeinschaft repräsentiert oder auch symbolisiert, die Meinungen ausizugleichen versucht und aus einer Vielfalt von Auffassungen Entschlüsse wie Beschlüsse kristallisiert. Je mehr eine solche Persönlichkeit imstande ist, selbst mit mehrheitlicher Übereinstimmung Ziele und Handlungsweisen zu bestimmen, je mehr sie Sachkenntnisse besitzt und

Zielstrebigkeit entfaltet — um so vorteilhafter für die Gemeinschaft. Leitstern einer solchen Persönlichkeit dürfen keine von persönlichem Ehrgeiz bestimmten Absichten, sondern muß immer das gemeinsame Interesse sein, den Apparat zu dirigieren, niemals aber darf der Apparat die Persönlichkeit dirigieren.

Es wird oft der Ausspruch des Einigers der österreichischen Sozial demokratie, Victor Adler, zitiert: „Es ist besser, mit der Masse zu irren, als gegen die Masse recht zu behalten.“ Nun hatte eine solche Haltung sicher ihre Berechtigung in der Zeit des Entstehens, der Sammlung und Einigung der Arbeiterbewegung. Damals ging es um interne Fragen der Bewegung, eine falsch prinzipielle Entscheidung wurde einfach durch den Zwang der Entwicklung korrigiert.

Im Reifeprozeß klärten sich von selbst viele umstrittene Fragen.

Heute hat die Arbeiterbewegung Macht und Einfluß im öffentlichen und im wirtschaftlichen Leben errungen. Ihre Entscheidungen sind nicht nur für die Organisation selbst, sie sind für allgemeine Angelegenheiten oft von höchster Bedeutung. Eine Fehlentscheidung, nur um einer augenblicklichen Meinung Rechnung zu tragen, kann gefährliche Konsequenzen für Staat oder Wirtschaft nach sich ziehen. Der Staatsbürger erwartet von führenden Persönlichkeiten, daß sie voraussehen. Der Masse nach dem Munde zu reden, mag publikumswirksam sein, es rächt sich aber, wenn die Ansicht falsch ist und sich die Dinge und damit auch die Meinungen ändern.

Wir dürfen in der heutigen Mas- sengesiellschaft allerdings keine zu großen Ansprüche — weder an Eliten noch Prominenz — stellen. Die Kollektive brauchen zu ihrer Führung vorwiegend den nüchternen Praktiker und weniger den opferbereiten Idealisten. Wirkliche Elite ist aus anderem Schrot und Korn, als die nervenfoeanspruchende, aber des großen Wurfes entbehrende Alltagsarbeit sie in Interessenvertretungen erfordert. Das Hervorragende ist meist gewohnter und gewöhnlicher Tätigkeit hinderlich. Wer über den Alltag hinausiblickt, überfordert allzuoft den Apparat. Aber gerade das ist das Entscheidende: „Die Klage, die Elite habe versagt, ist eine Modesache, die in jedem Zeitalter auftaucht. Es ist nicht Sache der Elite, eine brüchig werdende Gesellschaft zu retten, sie hat lediglich den Auftrag, die Neuwandlung zu lenken.“ (Friedrich Sieburg.) Die heutige Prominenz müßte bereit sein, Widerspruch zu ertragen und Kritik kritisch zu prüfen, sie müßte mutige Widersacher ermutigen und mit Zweiflern zweifeln, sie müßte das Außerordentliche achten und das Außergewöhnliche nicht geringschätzig aibtun — vielleicht ließe sich darauf eine maßgeblichere Elite aufbauen, als wir sie heute haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung