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Dichterwettbewerb in Moskau

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„Das wir bei den Moskauer Olympischen Spielen den Dichterwettbewerb nach anderthalb Jahrtausenden Unterbrechung wieder eingeführt haben, ist selbstverständlich”„,sagteder01ympia-Sprecher Iwan Chwatajew, im Zivilleben KG B-Oberst.

„Wir Sowjetmenschen sind die direkten Erben der Antike, jeder kann sich überzeugen, wie antiquiert unser Leben ist. Einige Mitglieder unseres Politbüros haben noch persönlich an den antiken Olympischen Spielen teilgenommen. Sie haben sich dort die Regeln des regellosen Ringkampfes Pankration angeeignet, die sie bis heute im Alltag der kollektiven Führung und auch in der Außenpolitik mit Erfolg verwenden.

Wir sind auch die einzigen, die die Bedingungen für einen solchen Wettbewerb haben. Die bürgerlichen Dichter sind in der Regel schwach organisiert; ihre Produkte lassen sich inhaltlich wie auch formell kaum vergleichen. Wie soll man da die Ergebnisse messen?

Es gibt zwar auch in den kapitalistischen Ländern Schriftstellergruppen, die sich bemühen, ihre Produktion ideologisch und formell zu unifizieren: es gibt sogar Produzenten von proletarischer Literatur, deren Bemühungen und Vorstellungskraft unsere Hochachtung verdienen, da diese Dichter fast ausnahmslos aus reichen Familien kommen und selbst nie gearbeitet haben.

Diese sympathischen Literaten müssen jedoch mit Schwierigkeiten kämpfen - sie kriegen nicht einmal jedes Jahr einen literarischen Preis - und können das olympische Niveau der Dichter aus den sozialistischen Länder nicht erreichen. Auch in anderen Disziplinen sind ja die reinen Amateure den staatlich gelenkten Amateuren gegenüber im Nachteil.

Die offiziellen Dichter in den sozialistischen Ländern sind stramm organisiert und an harte Disziplin gewöhnt. Der Staat sorgt für sie, läßt sie nie allein, verbessert die Qualität ihrer Produktion durch ständige und wache Kontrolle. Die Auswahl der Kämpfer wird nicht solchen zufälligen Faktoren wie Talent oder Inspiration überlassen.

Es ist also verständlich, daß die Goldmedaille in der Hauptdisziplin des olympischen Dichter-Wettkampfes, dem Sozialistischen Realismus, der darin besteht, unsere Führer in einer ihnen verständlichen Sprache zu besingen, die Mannschaft der führenden Funktionäre des Schriftstellerverbandes der UdSSR gewann.

Der Wettkampf mit den Mannschaften einzelner Sowjetrepubliken war hart. Besonders die Autoren aus den Asiatischen Republiken, mit ihrem blumigen orientalischen Stil, der sich für Lob besonders gut eignet, waren gefährliche Konkurrenten. Jedes Eigenschaftswort, jede Nuance der Begeisterung in der Stimme könnte das Punkteverhältnis verändern.

Unsere Schiedsrichter, Funktionäre der dem Schriftstellerverband übergeordneten Institution, ließen jedoch nicht einmal das kleinste Detail außer acht. Sie sind vorzüglich staatlich geschult und treffen ihre Urteile mit absoluter Staatssicherheit.

Sie sind jedoch auch im Internationalismus geschult. Deshalb vergaben sie in jeder Disziplin des Dichter-Wettbewerbes den zweiten Platz an eine Mannschaft aus einem anderen sozialistischen Land. Bronze wurde für Leiter fortschrittlicher Literatengruppen aus dem Westen reserviert.

Diese Ordnung wurde jedoch nicht in allen Disziplinen eingehalten. Zum Beispiel im Wettbewerb der Dramatiker gewann die Goldmedaille der PLO-Dichter Hassan Granati, für sein äußerst realistisches Heldendrama „Eroberung eines israelischen Kindergartens”. Sein sowjetischer Kollege Afanassij Ssukin bekam für seine optimistische Komödie „Gefreiter Petrow, Liebling der Afghanen” nur Silber.

Ohne Konkurrenz blieben die organisierten Sowjetdichter in der aufregendsten Dichterdisziplin der Olympischen Spiele in Moskau - im Sozialistischen Fünfkampf. Dieser Bestand aus:

1. Zielspucken auf wechselnde, von den Funktionären alle dreißig Sekunden neu nach belieben gewählte Zielscheiben;

2. Zerreißen - nach Anpfiff - eigener, nach veralteten Richtlinien verfaßten Manuskripte;

3. Bauchkriechen vor der Funktionärstribüne;

4. Zertrampeln eines Konkurrenten und

5. Sprung nach einer Staatsauszeichnung.

Alle drei Medaillen im Fünfkampf gingen an Vorstandsmitglieder des Schriftstellerverbandes der Sowjetunion.”

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