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Die Fronten sind ins Wanken geraten

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Optimismus in Wien, Skepsis in Genf und Rhetorik in New York. So präsentiert sich die „Abrüstungs-Szenerie“ nach drei Monaten intensiver Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen - wahrscheinlich die intensivsten, seitdem die Abrüstungsgespräche vor mehr als einem Jahrzehnt auf Regierungsebene aufgenommen wurden.

Im Wiener Redoutensaal sitzen einander seit fünf Jahren Vertreter der NATO und der Warschauer-Pakt-Staaten gegenüber, um über einen ausgewogenen Truppenabbau in Mitteleuropa zu beraten.

Die Wiener Gespräche, ursprünglich unter der Bezeichnung „MBFR“ („Mutual Balanced Force Reduction“: „Gegenseitige ausgewogene Truppenreduzierung“) bekannt, wurden schließlich mit der schrecklichen Abkürzung „MURFAAMCE“ („Gegenseitige Reduzierung von Truppen und Rüstung und assoziierte Maßnahmen in Zentraleuropa“) belegt.

Daß gerade in Wien die starren Fronten nunmehr etwas ins Wanken geraten sind, ist ebenso überraschend wie erfreulich. Erreicht wurde die Auflösung der festgefahrenen Verhandlungspositionen durch einen westlichen Vorschlag vom 19. April, in dem sich die NATO-Staaten bereit erklärten, bei einem Abzug einer sowjetischen Panzerarmee von 68.000 Mann und 17.000 Panzern ihrerseits 29.000 amerikanische Soldaten, 90 Atomwaffenträger und 1000 Nuklearsprengköpfe aus Europa zurückzuziehen.

Die östlichen Vertreter präsentierten

am 8. Juni einen eigenen Plan, in dem erstmals einer „asymmetrischen Reduzierung“ zugestimmt wurde, die Sowjets also mehr Truppen und Panzer als die Amerikaner abziehen würden, vorausgesetzt, Washington reduziert sein Nuklearwaffenarsenal in Europa.

Nach der letzten Sitzung vor der Sommerpause am 19. Juli begrüßte der niederländische Botschafter De Vos van Steenwijk im Namen der NATO-Staaten die östlichen Vorschläge, betonte jedoch, daß in wichtigen Punkten weiterhin Differenzen bestünden. Der sowjetische Delegierte, Botschafter Tarassow, erklärte, die Basis für ein Abkommen sei jedenfalls vorhanden. Die Entwicklung zeige, daß.Lösungen gefunden werden können.

Die Fortschritte in Wien wurden allerdings durch keine entsprechende

Annäherung bei den letzten Genfer Gesprächen über die Begrenzung der strategischen Rüstung (SALT) zwischen dem amerikanischen Außenminister Cyrus Vance und seinem sowjetischen Amtskollegen Andrej Gro-myko ergänzt. Obwohl amerikanische Sprecher im Brüsseler NATO-Haupt-quartier wiederholt versicherten, ein zweites Abkommen zur Begrenzung der strategischen Rüstung sei zu 95 Prozent unter Dach und Fach, konnten die beiden Politiker in der Frage der ominösen fünf Prozent zumindest zum jetzigen Zeitpunkt keine Einigung erzielen. Schließlich geht es bei SALT II ja auch nicht nur um ein Einfrieren, sondern um die effektive Reduzierung des Kernwaffenpotentials.

In Schwebe ist auch die Genfer Abrüstungskonferenz, genauer gesagt die „Konferenz des Abrüstungskomitees der Vereinten Nationen“ („CCD“: „Conference of the committee on di-sarmament“), die nun schon 16 Jahre lang andauert. In all diesen Jahren konnte die Tagung nur in Randgebieten der Abrüstung gewisse Fortschritte erzielen. Die weniger bedeutenderen Abrüstungsabkommen wie etwa das 1963 beschlossene „Verbot von Atomtests in der Atmosphäre sowie unter der Meeresoberfläche“ (unterirdische Tests sind , weiterhin erlaubt) und wie der 1970 in Kraft getretene Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen, wurden von den Supermächten bilateral ausgehandelt.

Der Mangel an Fortschritten in Genf war es auch, der die Vereinten Nationen bewog, im vergangenen Mai/Juni eine Sondersitzung der Generalversammlung abzuhalten, die ausschließlich dem Abrüstungsproblem gewidmet war. Ein Delegierter nach dem anderen meldete sich hiebei zu Wort, um im Brustton der Überzeugung die Notwendigkeit einer raschen und weitreichenden Abrüstung zu betonen. Bei den Durchführungsmaßnahmen fand diese Einmütigkeit allerdings bis jetzt keinen Niederschlag. So blieb es dem Delegierten Singapurs, einem der kleinsten UN-Mitgliedstaaten, vorbehalten, die Dinge beim Namen zu nennen: „Alle die 100 Delegierten, die vor mir gesprochen haben, waren gegen den Rüstungswettlauf. Jetzt frage ich mich: Wenn wir alle dagegen sind, wer ist dann eigentlich für den Rüstungswettlauf verantwortlich?“

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