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Im Zeitraffer die Zeit verloren

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Der volle Kalender ist längst zum Statussymbol geworden. Ohne Notizbuch kommt heute fast niemand mehr aus. Jeder ist verplant. Zeitnot als Zeitkrankheit.

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Der volle Kalender ist längst zum Statussymbol geworden. Ohne Notizbuch kommt heute fast niemand mehr aus. Jeder ist verplant. Zeitnot als Zeitkrankheit.

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Ein Blick auf die Uhr. „Schrecklich“, denkt er, „wieder 25 Minuten zu spät.“ Er hastet ins Kaffeehaus. Seine Gesprächspartner beruhigen ihn. Sie sind auch erst seit zehn Minuten da. Man kommt rasch zur Sache. Die Angelegenheit eilt. Nach 17 Minuten muß der erste wieder weg. Ein neuer Termin - nächsten Freitag? „Da bin ich in Zürich. Die Woche darauf?“ „Nur am Donnerstag.“ „Unmöglich — also, wir telefonieren...“

Wer erlebt sie nicht, die mqder-ne Krankheit, keine Zeit zu haben? Das fängt schon bei den Kindern an: Flöten- und Klavierstunde, Nachhilfe, Gymnastik, Ballett und natürlich die Zahnregulierung nachstellen lassen. Eine Kinder jause zu veranstalten, wird zum Managementproblem.

Auch das Alter wird nicht verschont. Typisch dafür der Pensionistengruß auf Wienerisch: „Ka Zeit!“ Man muß schließlich all das nachholen, wozu man in seinem Berufsleben nicht gekommen ist.

Im Denken der Neuzeit hat sich der Zeitbegriff gewandelt. Der Parole Galileis (Miß, was meßbar ist; was nicht meßbar ist, mache meßbar) folgend, wurde auch die Zeit der Diktatur der Zahlen unterworfen. Der Wiener Physiker Herbert Pietschmann beschreibt, wie der große Physiker Isaac Newton das Phänomen Zeit entzweispaltet: Newton unterschied zwischen der „absoluten, wahren und mathematischen“ und der „relativen, scheinbaren und gewöhnlichen Zeit“. Die erstere „verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen Gegenstand“.

Bemerkenswert: Zeitablauf wird somit ein Geschehen, das ohne Bezug auf den Menschen vor sich geht. Für Augustinus war dies, wie Pietschmann berichtet, noch keineswegs so: „In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten... Der Eindruck, der von den Erscheinungen bei ihrem Vorüberziehen in dir erzeugt wird und dir zurückbleibt, wenn die Erscheinungen vorüber sind, der ist es, den ich messe ... “, zitiert der Physiker den Heiligen.

Welcher Gegensatz zwischen beiden Zugängen! Augustinus sieht die Zeit im Menschen verankert, in der Person, die Erfahrung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem macht. Für Newton ist dies das scheinbare Phänomen. Die wahre Zeit ist unabhängig vom Betrachter.

Nun, unsere moderne Welt ist fraglos auf dem Newtonschen Zeitbegriff aufgebaut. Das macht schon die moderne Messung deutlich. Nicht mehr Tages- oder Jahresrhythmus (der menschlichen Erfahrung zugänglich) legen fest, wie wir die Zeit messen. Den Takt gibt das Caesium 133 an: eine Sekunde = 9.192.631.770 mal die Dauer eines atomaren Vorganges. Die Tageslänge ist ja viel zu ungenau: Sie schwankt um etwa 1/1000 Sekunde.

Die meßbar gemachte, von der menschlichen Erfahrung losgelöste Zeit wurde Bestandteil der physikalischen Formeln und Modelle. Diese wiederum bildeten die Basis für die technischen Gebilde, die unsere Welt gestalten.

Der objektive Zeitbegriff gibt jedoch nicht nur in unserer technisch geprägten Umwelt den Takt an, er erfaßt zunehmend die Organisation unseres gesamten Lebens. Kennzeichnend ist das Effizienzdenken in der Wirtschaft: Möglichst sparsam mit der Arbeitszeit umgehen, heißt möglichst viel in sie hineinpressen; daher muß rationalisiert, also geordnet, gemessen und normiert werden.

Der Slogan „Time ist money“ prägt nicht nur das Berufsleben. Dieses Denken wuchert zunehmend in alle Lebensbereiche hinein. „Nütze die Zeit, denn sie ist wertvoll“, heißt es. Und daher wird sie vollgepackt. Unser Konsumieren geschieht nämlich in der Zeit. Mehr Konsum bedeutet daher mehr Zeitaufwand. Je größer aber das Angebot an Konsummöglichkeiten wird, umso mehr muß auch der Verbrauch rationalisiert werden. Ohne Kalender zu leben, scheint heute undenkbar. Wer kann sich die vielen Termine merken?

Und so gerät unser ganzes Leben unter das Diktat der Uhr. Michael Ende beschreibt diese Welt in seinem Bestseller „Momo“ in Märchenform. Darin gibt ein grauer Mann von der Zeitsparkasse dem Friseur Fusi folgende Tips: „Statt einer halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine Viertelstunde. Sie vermeiden zeitraubende Unterhaltungen. Sie verkürzen die Stunde bei Ihrer Mutter auf eine halbe. Am besten geben Sie sie überhaupt in ein gutes, billiges Altersheim ... Schaffen Sie den unnützen Wellensittich ab!“

Und das Bemerkenswerte an der Geschichte: Wer sich dem Zeitsparen verschreibt, verfügt dennoch nicht über mehr Zeit. Im Gegenteil, jetzt erst verrinnt sie zwischen den Fingern. Begegnungen werden auf das nützliche Minimum eingeschränkt, die freien Stunden bis zum letzten „sinnvoll“ genutzt, möglichst viel Vergnügen und vor allem Entspannung gesucht.

Wie fehlgeleitet das ist, wurde mir beim Lesen eines Interviews mit Georges Simenon, dem erfolgreichen Autor unzähliger Krimis, bewußt. In einem Rückblick auf sein Leben sagte er nämlich: „Ich habe 10.000 Frauen gehabt, seit ich dreizehneinhalb war. Das war kein Laster. Ich habe kein sexuelles Laster, aber das Bedürfnis zu kommunizieren.“

Das letzte Wort schockiert: kommunizieren! Genau das ist Simenon sicher nicht gelungen, nämlich eine Beziehung einzugehen bei durchschnittlich drei sexuellen Abenteuern in der Woche.

Um das Kommunizieren aber geht es. Genau daran entscheidet sich unser Leben. Und daher ist auch der Ausverkauf an die objektive Zeit so fatal. Fristen und Termine verhindern Begegnung. Michael Ende sagt es ganz deutlich: „Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“ Es stimmt: Auch die Zeit wohnt in unseren Herzen. In unserer wissenschaftlich-technisch geplan-' ten und zweckrationalisierten Welt laufen wir Gefahr, dies zu vergessen.

In einer Welt, die zunehmend nach dem Takt der Quarzuhr funktioniert, entfremden wir die Zeit unserem Zeitempfinden und damit uns selbst. Wir rasen in eine Zeitkatastrophe, die uns von unseren Erfahrungen absperrt. In einem Rausch von Ereignisfolgen haben wir keine Erlebnisse mehr, können Erfahrungen in uns keine Wurzeln mehr schlagen.

Außenstehende machen uns auf den Irrweg aufmerksam. So las ich einmal die Aussage eines Indianer-Häuptlings aus Paraguay: „Das, was Leute wie Sie die .Faulheit' des Indio nennen, ist in Wirklichkeit das Glück, das der Indio von seinen Vorfahren geerbt hat... Glauben Sie, daß ein Mensch, der dieses Glück kennt, sich an die Hetze und das Kopfzerbrechen gewöhnen kann, das Sie Leben nennen?“

Je mehr wir die Zeit in den Griff zu bekommen versuchen, umso mehr entschwindet sie uns. Wir können kaum mehr Feste feiern, halten Alleinsein und Stille—alles scheinbar Zeitvergeudung — nicht mehr aus. Und dabei geschieht gerade dann das Wesentliche, wenn wir in Beziehung treten: zum Nächsten, zu uns selbst und zu Gott.

Diese Erfahrungen sind es, die unser Leben ausmachen. Wer sie durch effizientes Zeitmanagement wegrationalisiert, geht an seinem Leben vorbei. Wo die Zeiger der Uhr wie ein Damoklesschwert über uns hängen, wird Erleben vernichtet.

Wir haben vergessen, daß uns Zeit gewährt ist — und daß wir sie daher nicht machen können. Wie sagt doch der Prediger im Alten Testament? „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit...“

PS: Ich eile, um das Manuskript rechtzeitig zum Satz zu bringen.

Literaturhinweis: Herbert Pietschmann, „Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters“. Wien, Zsolnay-Verlag, 1980.

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