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Krise ist Zeit zum Regenerieren"

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iDie Krisenangst geht um. Ungewißheit und Unsicherheit machen sich breit. Damit sind Krisenzeiten Zeiten der Bewährung - vor allem aber auch der Regeneration.

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iDie Krisenangst geht um. Ungewißheit und Unsicherheit machen sich breit. Damit sind Krisenzeiten Zeiten der Bewährung - vor allem aber auch der Regeneration.

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Wenn man davon ausgeht, daß die christliche Urgemeinde in der Erwartung des nahenden Weltendes und der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi lebte und sich erst allmählich an den Gedanken einer länger dauernden Wartezeit hier auf Erden gewöhnt hat und sich weiter vergegenwärtigt, daß sich hinter diesem vordergründigen Irrtum im Hinblick auf den Zeitpunkt des Eintreffens der Fülle der Zeiten eine eschatologische Wahrheit verbarg, die von dieser Fehleinschätzung unangefochten blieb, ja durch sie noch deutlicher als zeitlose Wahrheit herausgehoben erscheint, gewinnt man einen Ausgangs- und Fixpunkt zur Beurteilung der Zeitlichkeit und der ihr innewohnenden Möglichkeiten, der auch für die Welt von heute Gültigkeit besitzt.

Der Christ lebt immer unter dem eschatologischen Vorbehalt und in Erwartung einer Erfüllung, die von oben kommt und nicht aus eigener Kraft geschaffen und hergestellt werden kann. Er lebt unter der Spannung der Schriftworte „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und der Rest wird euch hinzugegeben werden" und „Das Himmelreich leidet Gewalt, und die Gewalt brauchen, werden es an sich reißen".

Während das erste Wort eher zum gläubigen Vertrauen und Abwarten des Geschenkes von oben disponiert und dem einzelnen nur das Suchen und Streben abverlangt, das Entscheidende aber nicht in seine Hand legt, spricht das andere Wort dem einzelnen die Fähigkeit und Kraft zu, das Entscheidende, das freilich auch dann Geschenk und Gnade bleibt, herbeizuzwingen und hinsichtlich seines Eintretens zeitlich abzukürzen.

Doch seiner Selbstsicherheit und der Vorstellung, über Gott und seinen Heilsplan verfügen zu können, die sich auf Grund dieser Verheißung leicht einschleichen könnte, steht die mahnende und solche Deutungen abwehrende Aussage „Niemand kennt den Tag und die Stunde" entgegen, die die scheinbar eingeschränkte Souveränität Gottes wiederherstellt.

Wie sind alle diese theologischen Reflexionen zu vereinen und mit der Hauptaussage „Fürchtet Euch nicht, ich verkünde Euch große Freude" in Einklang zu bringen?

Wohl nur so, daß sie ein inmitten eines undurchdringlichen, aber alles durchdringenden Spannungsfeldes gesehen werden, das Ungewißheit und Gewißheit einschließt und in die höhere Einheit der Freude, die jenseits von Anstrengung und Abwarten, von Hoffen und Tun liegt, integriert. Der Christ handelt immer so, als ob das Ende der Dinge zeitlich bevorstünde, und er muß zugleich die Last der Verantwortung tragen, als ob alles von ihm abhinge.

Dieser existentielle und ontolo-gische Grundkonflikt spitzt sich nun in der Gegenwart in besonderer Weise zu: Denn heute ist die Möglichkeit des Endes der Welt nicht mehr bloß eine in die Hände Gottes gelegte Drohung, sondern auch eine dem Menschen mögliche Form der Selbstvernichtung.

Wir wissen nicht, ob wir das Schicksal der gewaltsamen Zerstörung als Strafgericht von oben zu erwarten haben, wenngleich wir es zu befürchten haben, und wir wissen auch nicht, ob unsere Anstrengungen, das Unheil abzuwenden, von Erfolg gekrönt sein werden, ja wir dürfen unsere Bemühungen nicht vom Wissen um das Gelingen unseres Tuns abhängig machen.

Angesichts dieser Situation sind die Christen, zeitlich verschoben und zivilisatorisch gehoben, sub specie aeternitatis aber in Anknüpfung an und Identität mit der christlichen Ursituation, auf das Schicksal der Urgemeinde zurückgeworfen. Dieses Schicksal kommt nicht nur in der Realität der kleinen auserwählten Schar, die dem Eschaton bewußt entgegengeht und zulebt, sondern auch in der Gestalt letzter Ausgesetztheit auf die Christenheit, ja auf die Menschheit zu.

Was für die große Welt und ihre Zusammenhänge zutrifft, gilt auch für die kleine Welt, in der wir leben, die aber immerhin schon der deutsche Dramatiker und Wahlösterreicher Friedrich Hebbel als „die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält" bezeichnet hat. Was ist in dieser Sicht exemplarisch an den Vorgängen in Österreich, die ohne Zweifel Krisencharakter haben und auch bei uns als Krise zum Heil oder Unheil ausschlagen können?

Es scheint, daß sich gerade in Österreich ein Umbruch des Parteiensystems ankündigt, daß Erosionsprozesse im Gang sind, die die Massivität der Strukturen, die sich sinnfällig aufdrängen, in Frage stellen und Lügen strafen. Sie stellen eine Herausforderung an die etablierten Kräfte und Parteien dar, sich den Anforderungen der Zeit gewachsen zu zeigen und das Reformpotential, das in den eigenen Kräften und Reihen schlummert, zu mobilisieren und zu erschließen.

Wird diese Herausforderung nicht ernst genommen und angenommen, kann es geschehen, daß die sich für unüberwindlich und historisch garantiert haltenden Kräfte und Strukturen früher oder später bersten, bzw. zu leeren Gehäusen, aus denen der Geist und die historische Gestaltungsmächtigkeit ausgezogen sind, werden.

Dieses Uberspielen der traditionellen Parteien und Strukturen kann wiederum die Form ei-, rier fundamentalen Basisdemokratisierung, aber auch die eines Neo-Autoritarismus annehmen; Müdigkeit und Erschöpfung können auch hier zum Heil oder zu verschiedenen Formen des Unheils werden und so die Mehrdeutigkeit der Krise, die Möglichkeit des Ausbruchs in verschiedene Richtungen, die dem Menschlichen eigen ist, demonstrieren.

Es ist auch kein Zufall und kommt nicht von ungefähr, daß in der letzten Zeit auch die Herrschenden selbst, ihre Ansprüche und Moral, ins Kreuzfeuer der Kritik kommen. Es ist nicht nur die Not, die die von ihr Befallenen genauer hinsehen läßt, was die Bevollmächtigten des Gemeinwesens tun und lassen, es ist auch der Wille zur Glaubwürdigmachung und konsequenten Durchdenkung, aber auch Durchlebung der Inhalte, der zu solcher Kritik und Konfrontation der Mächtigen, zu einer solchen Gegenüberstellung von Ideal und Leben, von Programm und Wirklichkeit, antreibt.

Es bleibt zu hoffen, daß alle diese Prozesse zur Regeneration der verschütteten Substanz und nicht zu einer Auflösung des mühsam Erarbeiteten führen. Unsere Republik hat den Test der Erhaltung der demokratisch-freiheitlichen Ordnung trotz Wechsels des Regierungssystems von der großen Koalition zum System der Einparteienregierung bestanden. Es müssen Vorkehrungen getroffen werden, daß sie auch die möglicherweise in Bälde und intensiv bevorstehende Erprobung der Tragfähigkeit des Systems angesichts wirtschaftlicher Erschütterungen und unvermeidlicher Verzichte besteht, was ohne Zweifel schwieriger und riskanter ist.

Auch in dieser Situation und Beziehung habe.i die Christen Sauerteigfunktion, aber auch die Fähigkeit und Verpflichtung, ihre Antennen zur Wahrnehmung jener Schwingungen und geheimen Beben auszustrecken, die den bloßen Kindern der Welt bei aller Klugheit, die sie an den Tag"legen, verborgen bleiben.

Das heißt nicht, daß sie der allgemeinen Not entrückt sind, sie nehmen vielmehr in vollem Umfang, ja mit geschärfter Leidensfähigkeit, an ihr Teil, aber sie haben einen Vorsprung, den sie nicht sich selbst verdanken und den sie daher auch nicht preisgeben, sondern wie eine kostbare Gabe hüten und pflegen müssen. Sie leben im Zeichen des Ubersprunges in die Ewigkeit, die die Zeit nicht erdrückt, aber in ihre Schranken weist.

. Der Autor ist Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien.

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