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Recht auf Kritik

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Was ich zu sagen habe, möchte ich größtenteils zur Stütze folgender Behauptungen Vorbringen: jede literarische Kritik sollte ergänzt werden durch Kritik von einem eindeutigen ethischen und theologischen Standpunkt aus. Nur wenn in einem Zeitalter eine allgemeine Übereinkunft in ethischen und theologischen Fragen besteht, kann literarische Kritik für sich allein gültig sein. In Zeiten wie unserer, in denen es keine solchen allgemeinen Übereinkünfte gibt, ist es für christliche Leser um so wichtiger, alles was sie lesen, besonders aber alle Werke der Imagination nach ausgesprochen ethischen und moralischen Maßstäben zu überprüfen.

Die „Größe“ eines Werkes der Literatur kann nicht nur mit lite-

rarischen Maßstäben bestimmt werden, wobei wir allerdings nicht vergessen dürfen, daß nur mit Hilfe literarischer Wertmaßstäbe entschieden werden kann, wann wir es überhaupt mit Literatur zu tun haben.

Seit einigen Jahrhunderten hat man die stillschweigende Voraussetzung gemacht, daß es keine Beziehung zwischen Literatur und Theologie gebe. Damit soll allerdings nicht geleugnet werden, daß literarische Werke — wiederum meine ich vor allem solche imaginativer Art - wahrscheinlich stets nach irgendwelchen moralischen Maßstäben gewertet wurden, und daß dies auch heute so ist und wohl immer sein wird. Die moralische Beurteilung literarischer Werke geschieht jedoch ausschließlich nach dem Sittenkodex, den eine Generation anerkennt, ob sie nun danach lebt oder nicht. In einer Zeit, die eine fest umrissene christliche Theologie anerkennt, mag der allgemeine Kodex ziemlich orthodox sein, obwohl selbst in solchen Epochen der Sittenkodex Begriffe wie „Ehre“, „Ruhm“ oder „Rache“ zu einem Rang erheben kann, der vom christlichen Standpunkt aus ganz imtragbar ist. Die Dramen- Ethik des elisabethanischen Zeitalters bietet interessante Beispiele hierfür. Wenn jedoch der allgemeine Sittenkodex von seinem theologischen Hintergrund losgelöst und infolgedessen mehr und mehr zu einer bloßen Gewohnheitsregel wird, ist er sowohl dem Vorurteil wie der willkürlichen Veränderung ausgesetzt. In solchen Zeiten ist es durchaus möglich, daß die Moral ihrerseits durch die Literatur verändert wird, so daß man sagen kann: das „Anstößige“ in der Literatur ist lediglich das, woran sich die gegenwärtige Generation noch nicht gewöhnt hat.

Es ist eine Binsenwahrheit, daß Dinge, welche die eine Generation schockieren, von der nächsten ganz ruhig hingenommen werden. Diese Anpassungsfähigkeit an die Wandlung moralischer Wertmaßstäbe ist zuweilen mit Genugtuung als Beweis menschlicher Vervollkommnungsmöglichkeiten begrüßt worden; dabei ist sie doch höchstens ein Beweis, auf wie wenig festem Grund das moralische Urteil der Durchschnittsmenschen steht.

Es ist uns als Lesern literarischer Werke aufgegeben, zu wissen, was uns gefällt. Als Christen so gut wie als Lesern ist uns aufgegeben, zu wissen, was uns gefallen sollte. Als ehrlichen Menschen ist uns fernerhin aufgegeben, nicht zu behaupten, was uns gefällt, sei zugleich, was uns gefallen sollte — und als ehrliche Christen dürfen wir schließlich nicht behaupten, daß uns gefällt, was uns gefallen sollte.

Das letzte, was ich mir wünschen würde, wäre nämlich die Existenz von zwei Literaturen, eine für christlichen Gebrauch, die andere für die heidnische Welt. Ich sehe es als die Pflicht aller Christen an, gewisse Maßstäbe und Grundsätze der Kritik ganz bewußt noch außer denen, die die übrige Welt an wendet, aufrechtzuhalten, und nach diesen Grundsätzen und Maßstäben muß alles, was wir lesen, geprüft werden.

Wir dürfen nicht vergessen, daß der größere Teil unseres laufenden Lesestoffes für uns von Leuten geschrieben wird, die keinen wirklichen Glauben an eine übernatürliche Ordnung haben, obwohl manches auch von Menschen mit individuellen Vorstellungen einer übernatürlichen Ordnung, die nicht die unseren sind, stammen mag. Und der größte Teil unserer Lektüre ist schließlich von Personen geschrieben, denen nicht nur ein solcher Glaube fehlt, sondern die darüber hinaus nicht einmal wissen, daß es noch Menschen in der Welt gibt, die so „rückständig“ oder so „exzentrisch“ sind, daß sie immer noch glauben. Solange wir uns der Kluft zwischen uns und dem größten Teil der zeitgenössischen Literatur bewußt sind, sind wir mehr oder weniger davor bewahrt, von ihr verletzt zu werden, wir befinden uns sogar in der Lage, aus ihr heraussuchen zu können, was sie uns Gutes zu bieten hat.

Es gibt heute eine sehr große Zahl von Menschen in der Welt, die glauben, alle Übel seien im Grunde ökonomischer Natur. Manche glauben, daß verschiedene, ganz spezielle wirtschaftliche Veränderungen allein genügten, um die Welt ins Gleichgewicht zu bringen. Andere verlangen mehr oder weniger drastische Änderungen der sozialen Verhältnisse, die hauptsächlich in zwei einander entgegengesetzte Richtungen gehen. Alle diese geforderten und an einigen Stellen bereits einge- führten Veränderungen sind in einer Hinsicht einander gleich: sie basieren auf den Anschauungen jener Geisteshaltung, die ich Säkularismus nenne. Sie befassen sich nur mit Veränderungen zeitlicher, materieller und äußerlicher Natur, sie befassen sich mit einer Moral lediglich kollektiver Natur.

Nun leugne ich nicht, daß diese tatsächlich eine Art Moral ist und daß sie innerhalb gewisser Grenzen fähig ist, Gutes zu bewirken. Aber ich glaube, wir sollten alle eine Moralität zurückweisen, die keine höheren Ideale vor uns aufzurichten vermag als diese. Sie stellt eine jener Reaktionen dar, deren Zeugen wir sind, Reaktionen gegen die Ansicht, daß die Gesellschaft nur für den Nutzen des Individuums da ist. Aber auch sie ist ebenso ein Evangelium von dieser Welt und nur von dieser Welt.

Mein Vorwurf gegen die moderne Literatur geht in die gleiche Richtung. Es ist ja nicht so, daß die moderne Literatur im üblichen Sinn „unmoralisch“ oder „amoralisch“ wäre; und jedenfalls würde es auch nicht genügen, nur diese Anklage vorzubringen. Es ist einfach so, daß sie unsere grundlegendsten und wichtigsten Glaubensinhalte zurückweist oder gar keine Ahnung von ihnen hat. Und infolgedessen ist es ihre Tendenz, die Leser zu ermutigen, dem Leben, solange es währt, was sie nur können, abzugewinnen, keine sich “darbietende „Erfahrung“ auszulassen und sich zu opfern - wenn sie sich überhaupt opfern wollen - einzig um greifbarer Wohltaten für andere willen.

Sicher sollen wir auch weiterhin das Beste dieser Art, was unsere Zeit bietet, lesen. Aber wir müssen es unermüdlich kritisieren, und zwar nach unseren eigenen Prinzipien und nicht nur nach den Prinzipien, die die Schriftsteller selbst und die Kritiker, die diese Literatur in der Presse besprechen, anwenden.

Gekürzte Fassung der Studie,.Religion und Literatur“, die T. S. Eliot (1888-1965) im Jahr 1935 veröffentlicht hat und die nun in seinem Band „Essays“ (Suhrkamp Taschenbuch 1562) in deutscher Übersetzung erschienen ist

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