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Wo sind Inseln der Glaubwürdigkeit ?
Haben sie nicht alles, die jungen Menschen heute? Materiell ja. Aber sonst stimmt vieles nicht. Ein österreichischer Soziologe arbeitet fünf wichtige Problembereiche heraus.
Haben sie nicht alles, die jungen Menschen heute? Materiell ja. Aber sonst stimmt vieles nicht. Ein österreichischer Soziologe arbeitet fünf wichtige Problembereiche heraus.
Erstens: Jugend lebt heute mit einem Übergewicht von Fiktionen, in einem Dschungel von verwirrenden und einander widersprechenden Lebensmodellen. Alle diese Modelle haben immer etwas von Unsicherheit; die Gesellschaft ist voll unerfüllter und (bewußt) voll unerfüllbarer Versprechungen. Je lauter die Versprechungen, desto unerfüllbarer sind sie. Je geschickter das Plakat überreden will, desto mehr beschleicht das Gefühl der Uner-füllbarkeit den Betrachter.
Es ist eine Gesellschaft der Doppelbödigkeit und der Doppelzüngigkeit oder des Zynismus. Und so werden die Vermarktungsstrategien perfektioniert, mit den zugehörigen Uberre-dungsformen. Überredung gilt, nicht Uberzeugung!
Wir leben in einer Welt falscher Versprechungen, deren Unglaubwürdigkeit im Augenblick, da sie gemacht werden, ob sie den Urlaub, die Kosmetik, die Seife, das Fahrzeug oder den Badeanzug betreffen, uns beschleicht. Es entsteht das Gefühl, daß das alles doch nicht so perfekt oder so wahr sein könnte, wie es uns angekündigt wird.
Dabei werden uns Freiheitsillusionen unausgesetzt vorgegaukelt. Wir sind gefangen in Freiheitsillusionen. Und die mittlere Generation ist verwurzelt in dieser Welt, erzeugt diese Welt der Illusionen mit. Nur die Jüngeren können noch gewisse ernste Zweifel an der Glaubwürdigkeit aus vollerem Herzen einbringen.
Zweitens: Wir erleben eine Perfektionierung des Alltags, von den Maschinen, die wir verwenden, bis zu den Reinigungsmitteln. Diese Perfektionierung geht mit einer generellen Unsicherheit der Gesamtsituation Hand in Hand. Die Perfektionierung selber hat etwas Zerstörerisches.
Während wir also im Kleinen und Kleinsten glauben, daß wir uns immer mehr sichern können, und immer Besseres gewinnen
„Die Unglaubwürdigkeit der Institutionen wird immer stärker empfunden“ und uns auch versprochen wird, daß alles immer besser wird — der Ski von heuer, sagt man uns, sei besser als der Ski vom vergangenen Jahr —, wissen wir, daß Unsicherheiten weiterhin vorhanden sind.
Die Unglaubwürdigkeit der Institutionen, auch der Kirchen, die in diese Doppelzüngigkeit und Doppelbödigkeit hineingezogen werden und an ihr mitwirken, wird (wie meine eigenen Umfrageforschungen in Österreich zeigen) von den Menschen immer stärker empfunden.
Mißtrauen gegenüber der Kirche, daß sie bei der Bewältigung' großer gesellschaftlicher Aufgaben mitwirken könne, ist bei den Jungen etwa dreimal so hoch wie bei den Älteren. Nur eine winzige Minderheit von Jungen kann sich bereitfinden, in den etablierten Parteien mitzuarbeiten.
Der Rückzug der Jugend aus den großen Parteien ist ein entscheidendes gesellschaftliches und politisches Symptom unserer
Tage. Man kann es auch so interpretieren, daß gerade die Jungen das untrügliche Gefühl für die Zukunft haben und sich vielleicht neue politische Strukturen werden bilden müssen. Das Mißtrauen der Jungen ist also ein Angriff auf das alte System.
Dabei ist noch unklar, welche Formen der Politik der Zukunft gemäß sein werden. Die Grünen sind ein vorweggenommenes Anderes. Wir sehen, daß zwar nur eine Minderheit der jungen Wähler grün wählt, aber daß die Mehrheit der Grünwähler jung ist.
Drittens: Die Frage ist, wieweit sich Glaubwürdigkeitsinseln in unglaubwürdig gewordenen Institutionen überhaupt herausbilden können. Das trifft sowohl für die Kirchen zu, als auch für die großen Parteien - zumindest in Österreich.
Die Jungen empfinden auch in Deutschland diese Unglaubwürdigkeit stärker als diejenigen, die sich an CDU oder SPD oder an die katholische oder die evangelische Kirche lebenslang gewöhnt haben
..Erkennen die Eltern, die Älteren die Doppelbödigkeit, in der sie leben?“ und in die inneren Kompromisse mit diesen Institutionen sehr viel Mühe, sehr viel Arbeit investiert haben.
Die Eltern werden nun von den Jungen als Exponenten der unglaubwürdigen Systeme und des Zwangs gesehen, den diese Systeme ausüben. Indem die Jungen diese Systeme in Frage stellen, wenden sie sich mit verhaltener oder offener Ablehnung gegen die Eltern, die daran mitwirken und die Systeme mittragen. (Bei Befragungen erscheint allerdings relativ viel Harmonie zwischen Jugendlichen und Eltern. Ob da Aggressionen unterdrückt werden oder die Jugendlichen die „Zwangslage“ der Eltern einsehen?)
Erkennen die Eltern, die Älteren die Doppelbödigkeit, in der sie leben? Sie können sich aus dieser Doppelbödigkeit nicht befreien, weil sie ja die Positionen in den Systemen innehaben. Sie erleben die Kritik der Jungen an den Systemen als Selbstbedrohung. Wer Selbstbedrohung erlebt, schottet sich ab, muß sich einigeln und wird aggressiv.
Die Eltern sind gehalten, weiterhin zu alimentieren, Geld und Freizeitchancen zu geben, den von ihnen mit ihren jungen Leuten nicht geteilten Musikgeschmack zu ertragen, das Fernsehprogramm, das sie selber nicht wollen, auszuhalten und die auch zwischen gut geschlossenen Türen hindurchdringende Musik. Sie müssen all das aushalten und dürfen keine alte oder überhaupt keine Herrschaftsform ausüben.
Es kommt auf den ganz schwierigen Punkt an, der fast unlösbar ist: Wo beginnt die für die eigene psychische Uberlebensfähigkeit nötige Selbstabgrenzung der Eltern und wo beginnt ihre Lieblosigkeit gegenüber den Jungen?
Eltern tragen (oft?) den unausgesprochenen Haß einer Dauerausbeutung mit sich herum. Sie haben das Gefühl, wehrlos zu sein, wenn sie auf dem bestehen, was ihnen selber, sich und den Jungen gegenüber wichtig ist. Und sie haben Angst, die Jungen zu „verlieren“, wenn sie darauf bestehen, nich£ ausgebeutet oder von ihren eigenen Zielen entscheidend abgedrängt zu werden.
Viertens: Es gibt viele Formen von „Mißbrauch“. In erkalteten und erotisch unentfalteten Ehen der 40- bis 70jährigen oder 50- bis 80jährigen laufen Kinder und Jugendliche Gefahr, zu Ersatzbefriedigungen herangezogen zu werden. Kindesmißhandlung umfaßt nicht nur körperliche Verletzungen durch Prügel oder Schädigungen durch Inzest.
Kindesmißhandlung geht auch auf sanften fürsorglichen Pfoten des Besserwissens, des „Helfen-wollens“ in den leisesten Formen von Unterdrückung, die keinem der Beteiligten durchschaubar sind.
Eugen Drewermann schrieb: „... so mißrät unser Miteinanderleben unausweichlich zu einer terroristischen Todespraxis aus Fürsorge, Zwang, Dirigismus und erstik-kender Einengung.“ Welcher Vater, welche Mutter gerät nicht in Gefahr, terroristisch zu befürsorgen, zu zwingen und erstickend einzuengen?
Fünftens: Erotisch enttäuschte oder unerlöste Menschen können die Andersartigkeit vor allem der Sexualität und des sexuellen Suchens der Jugend in der Familie nicht oder nur sehr zögernd ertragen. Haß • entsteht auch aus Neid über mehr sexuelle oder erotische Erfüllung der anderen. Dieser Haß setzt sich dann in strengem Normdenken und in Rigorismus um.
Auch sind die Eltern darüber bestürzt, daß sie auf den ihnen wichtigen Lebens-Gebieten die Fortsetzung ihrer eigenen Lebensformen bei den Kindern nicht erleben. Die Kinder gehen z. B. nicht mehr zur Kirche oder die Kinder wehren sich gegen die Partei, für die Vater oder Mutter Jahrzehnte gekämpft, Gelder eingesammelt und Reden gehalten haben.
Die Erbitterung darüber, daß es einem nicht gelungen ist, die Kinder von dem zu überzeugen, woran man selber glaubte und was man selber für wichtig hält, kann in den Familien vergiftend wirken. Dabei käme es darauf an, daß die Eltern bereit sind, ihr (früheres) Selbst zu korrigieren oder kritisieren zu lassen.
Auszug aus einem Vortrag, den der Autor, Professor für Soziologie an der Universität Wien, im Rahmen der Tagung „Generationenkonflikt und Wertewandel auf Burg Rothenfels gehalten hat.
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