6816441-1973_12_01.jpg
Digital In Arbeit

Zweierlei Bürger?

19451960198020002020

Günter Grass, der vormals die „Blechtrommel“ rührte, trommelt heute: „Bürger, werdet mündig!“ Er meint, die Siebzigerjahre stünden im Zeichen der Bürgerinitiativen. Und er beschwor Österreichs Sozialdemokraten am 23. Februar, doch um jeden Preis auf den so zum Ausdruck gebrachten Bürgerwillen Rücksicht zu nehmen. (Siehe auch unseren Beitrag auf Seite 3).

19451960198020002020

Günter Grass, der vormals die „Blechtrommel“ rührte, trommelt heute: „Bürger, werdet mündig!“ Er meint, die Siebzigerjahre stünden im Zeichen der Bürgerinitiativen. Und er beschwor Österreichs Sozialdemokraten am 23. Februar, doch um jeden Preis auf den so zum Ausdruck gebrachten Bürgerwillen Rücksicht zu nehmen. (Siehe auch unseren Beitrag auf Seite 3).

Werbung
Werbung
Werbung

Bürgerkomitees schießen heute wie die Pilze aus dem Boden: nicht etwa deshalb, weil Bruno Kreisky die Demokratisierung in allen Lebensbereichen schon vor drei Jahren in Aussicht gestellt hat, sondern auch, weil die Österreicher nunmehr die Macht der Mehrheit jenseits der Parteien entdeckt haben.

Diese Macht bekam der heutige Dritte Präsident des Nationalrates, Otto Probst, . schon 1964 in Fußach zu spüren. Diese Macht fand auch 1964 im Rundfunkvolksbegehren ihren Niederschlag. Und dieser Macht beugte sich auch die ÖVP bei der geplanten Einführung eines neunten Schuljahres.

Heute gibt es Bürgerinitiativen gegen Stadtautobahnen und für die Erhaltung des Wiener Sternwarteparks, gegen die Neusiedlerseebrücke und für Kinderspielplätze in den Städten, gegen den Bau von Apartmenthäusern und für die Erhaltung Grinzings, gegen die Ver-schandelung der Wachau und für die Erhaltung der Grazer Altstadt, gegen Kraftwerksbaüten und für die Rettung der Lobau.

Auch Bundeskanzler Kreisky zog aus solchen Lektionen und der Grazer Wahl seine Lehren und verkündete nach dem Ministerrat vom 6. März, Bürgerinitiativen würden von der Regierung ab sofort besonders pfleglich behandelt, man könne mündige Bürger nicht einfach übergehen.

Nur: Wie hält man es mit jenen Bürgerinitiativen, denen es vorerst nicht um die Qualität des Lebens geht, sondern um das Leben selbst? Oder beschränkt sich die Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungen durch Bürgerkomitees nur auf Grünflächen und Nahverkehrskonzepte?

Erinnern wir uns: In der „Aktion Leben“ haben sich über 800.000 wahlberechtigte Österreicher mit ihrer Unterschrift zum Schutz des ungeborenen Lebens bekannt. Außer dem Rundfunkvolksbegehren war bisher keine Bürgerinitiative in diesem Maße unterstützt worden. Aber wie steht es um die „pflegliche“ Behandlung dieses Bürgerwillens?

Wir stehen jetzt vor einer paradoxen Situation: auf der einen Seite gibt es die Aktionen für das „Überleben“, bei denen schon dann, wenn nur ein Baum gefällt wird, auch ein „Scher“-baum fällt. Auf der anderen Seite geht es nicht um das Leben eines Baumes, sondern um das Leben eines Menschen. Aber da rührt sich nichts. Und wenn eine Entscheidung fällt — so möglicherweise sogar gegen die Bürgerinitiative der 800.000 ...

Man kann ruhig sagen, daß damit ein „konservatives“ Verlangen abgewürgt wird. Aber ist das Verlangen, weil es „konservativ“ ist,schlecht? Wird nicht auch sonst deutlich vor Augen geführt, daß „konservatives“ Verlangen durchaus up to date ist?

Es kann weder logiseh noch richtig sein, wenn die Qualität des Lebens in der Rangordnung vor dem Leben selbst rangiert. Und wenn hier eine Bürgeraktion auf die tatsächliche Rangordnung der Werte hinweist, so müßte man eigentlich annehmen, daß diese im politischen EntScheidungsprozeß ebensoviel Beachtung findet wie jede andere Willensäußerung.

Aber es scheint so, als ob Bürgerinitiativen heute nur dort anerkannt würden, wo sie noch — wenn auch mit Schwierigkeiten — in einem politischen Konzept Platz finden. Das verbale Bekenntnis der politischen Machtträger zur plebiszitären Demokratie nützt nichts, wenn sich zwischen Theorie und Praxis Diskrepanzen herausstellen. Bürgerinitiativen sollten nicht deshalb allenthalben Beachtung finden, weil sie heute groß in Mode sind, sondern weil man sie akzeptiert.

Und so bekennen sich die politischen Machtträger, entgegen früheren Beschlüssen, beispielsweise zur

Erhellung einer Parkanlage und versuchen so ihr demokratisches Empfinden mit Nachdruck hervorzukehren, anderseits pochen sie beim Schutz des ungeborenen Lebens auf Parteitagsbeschlüsse und tun kund, daß kein Wunsch der Bürger daran etwas zu ändern vermag.

Nie wurde in Österreich jemals zuvor mehr der Demokratisierung in allen Lebensbereichen das Wort geredet, nie wurde bisher soviel von neu zu schaffenden Prioritäten gesprochen. Allerdings muß der Bürger heute zur Kenntnis nehmen, daß sowohl die Lebensbereiche, die demokratisch durchdrungen werden sollen, als auch die Prioritäten, die geschaffen werden, nach wie vor von den politischen Machtträgern bestimmt werden. Die Teilnahme der Bürger an den relevanten gesellschaftlichen Entscheidungen ist noch sehr unvollkommen. Oder können, was 200 Parteitagsdelegierte beschließen, auch 800.000 Österreicher nicht umstoßen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung