Christliche Kirchen im epochalen Umbau

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Der Umgang mit der Flüchtlingskrise wird zur Nagelprobe - gerade für die Kirchen. Aber - wie die Europäische Union - schaffen es auch Europas katholische Bischöfe und ihre Dachorganisation CCEE nicht, mit einer Stimme zu sprechen. Das ist höchst alarmierend.

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Der Umgang mit der Flüchtlingskrise wird zur Nagelprobe - gerade für die Kirchen. Aber - wie die Europäische Union - schaffen es auch Europas katholische Bischöfe und ihre Dachorganisation CCEE nicht, mit einer Stimme zu sprechen. Das ist höchst alarmierend.

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Das Europa dieser Tage ist in wenigen Wochen anders geworden. Wie war Europa, allen voran die Ungarn, stolz, als 1989 der eiserne Vorhang fiel. Jetzt aber wurde in kurzer Zeit zwischen Ost- und Westeuropa ein neuer "Vorhang der Unsolidarität" hochgezogen, der viele Menschen von ihrem "Marsch der Verzweiflung" abbringen soll, diesen aber lediglich zusätzlich Erschwernis bringt. Während die meisten Länder Westeuropas auf eine solidarische Lösung für die Kriegsflüchtlinge aus Syrien drängen, lehnen die osteuropäischen Länder eine Quoten- Beteiligung bei der Meisterung der Herausforderung bislang ab. Gespalten sind die Bevölkerungen der einzelnen Länder. Im Internet nehmen die islamophoben Hass-Postings flutartig zu. Zugleich gibt es aber bei vielen Menschen und Organisationen eine bewundernswerte Hilfsbereitschaft.

Polarisierte Kirchen

Mittendrin in diesen Turbulenzen die christlichen Kirchen. Auch sie sind polarisiert. Der Riss geht durch die kirchlichen Gemeinden und Gemeinschaften. Die Bischöfe sprechen nicht mit einer Zunge. Es eint sie nicht das Evangelium, vielmehr verdoppeln sie auf dem Boden der Kirche die Spaltung der Regierungen und Bevölkerungen. Gehen die Zeiten zu Ende, wo inmitten eines politisch geteilten Europas unter den Vorsitzenden Hume, Martini oder Vlk zumindest die Bischöfe Europas geeint waren? In einer am 16.9.2015 abgegebene Erklärung betonen Europas Bischöfe lediglich die Unterschiede zwischen den Ländern, machen die jeweilige nationalen Politiken für die Lösung verantwortlich, sprechen aber nicht mit einer europäischen Stimme.

Es scheint, als würden sich der CCEE und die EU gemeinsam auf einem Weg der schleichenden Auflösung befinden. Stellungnahmen einzelner Bischöfe befremden. Der Bischof von Szeged, László Kiss-Rigó, will durch Fernhalten der Flüchtlinge das christliche Europa vor einer "Invasion des Islam" retten. "Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen", lesen auch die ungarischen Bischöfe bei Matthäus (Mt 25,43). Kann man das "christliche Abendland" verteidigen, indem man von der Bibel absieht?

Kirche vom Ende her entwerfen

Wie aber sollte sich eine christliche Kirche inmitten dieses dramatischen Wandels in der globalisierten Welt positionieren?

"Mission" der Kirche ist es, die von Gott zugesagte Vollendung der Welt jetzt schon in Spuren darzustellen und eine schrittweise Entwicklung der Welt in diese Richtung durch "Einmischung" in die gesellschaftlichen Prozesse voranzubringen sowie Rückschritte abzumildern.

Für die erhoffte Vollendung der Welt stehen biblische Bilder bereit: Reich Gottes, der kosmische Christus sowie das Pfingstereignis.

Reich Gottes meint eine Welt geprägt von "Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist" (Röm 14,17), eine von Solidarität geprägte "Zivilisation der Liebe" (Johannes Paul II.).

Der kosmische Christus (Kol 1,15-20): Durch die Auferstehung ist dieser von Raum und Zeit entbunden und damit in der Lage versetzt, den nach und nach hinsterbenden Kosmos in den vollendeten "Weltleib" Gottes (Hildegard von Bingen) aufzunehmen. Wer immer auch nur ein wenig wahrhaft liebt, kommt in der Vollendung an. Liebe ist Heil im atheistischen Modus.

Beim Pfingstereignis sind Menschen verschiedener Kulturen und Sprachen geeint. Sie verstehen einander dank der von Gott geöffneten Ohren des Herzens. Verschiedene kulturell-religiöse Erfahrungen können sich selbst im chaotischen Zusammentreffen auf einer höheren Ebene zu neuer Qualität weiterentwickeln.

Enthüllen

Solches Wissen um die Einheit, die gleiche Würde, die Berufung zur Liebe aller Menschen soll die Kirche als Jesusbewegung in der Welt von heute in Erinnerung halten. Dieses Enthüllen macht sie zum Licht der Welt (Mt 5,14). Durch das, was sie leben, wovon sie gefragt erzählen und was sie feiern, machen sie unübersehbar sichtbar, was Gott mit allen Menschen vorhat: dass nämlich in Gottes Kraftfeld die Liebe und damit das Heil erblühen.

Gegen die von Gottes Geist inspirierte Entwicklung auf Vollendung in Liebe und Gerechtigkeit hin wirken die dunklen Gegenmächte Gewalt, Gier und Lüge. Die Tiefenpsychologin Monika Renz macht deren Entstehen an der geburtlichen Urangst fest. Diese Angst wird entweder gezähmt, indem sich in der Bindung an mütterliche und väterliche Menschen Urvertrauen ausbildet, welches später Glauben und Lieben ausreift. Oder die Angst bleibt ungezähmt: Dann greift ein verängstigter Mensch zu Selbstverteidigungsstrategien. Und wieder nennt Renz Gewalt, Gier und Lüge. Angst prägt aber nicht nur Einzelne, sondern Kulturen: Von einer "Culture of fear" ist die Rede (Frank Furedi). In ihr zeigt sich Gewalt als Terrorismus, Gier formt die Finanzwelt, Lüge erscheint als Korruption.

Vielgesichtige Angst aber entsolidarisiert. Wer Angst hat vor sozialem Abstieg, vor kultureller Überfremdung, vor der Schwächung des "christentümlichen Europas", tut sich mit der Solidarität mit den Flüchtlingen schwer. Aus parteipolitischem Kalkül wird Angst mutwillig geschürt, was eine solidarische Politik erschwert. Ohne Solidarität küssen einander nicht mehr Gerechtigkeit und Frieden (Ps 85,11). Aufgabe von wahren Politikern wäre es, Angst wahrzunehmen sowie diese durch kompetente Politik zu mindern.

Heilen

Wie positioniert sich eine christliche Kirche angesichts der dämonischen Gegenmächte im Umkreis der Angst? Neuzeitliche Theologie widmete sich den bösen Folgen der Angst (Kierkegaard, Drewermann). Eugen Biser sowie die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus treten folgerichtig für eine Verlagerung der Kirchenpraxis vom Moralisieren zum Heilen ein. Der bloße moralische Appell gegen das Böse verhalle lediglich in vergebliche Leere (Röm 7,15-25).

Heilendes Erbarmen ist die Mitte aller Weltreligionen. Im Islam wird in jeder Sure Allah als der Allerbarmer gepriesen. Im tibetischen Buddhismus gilt der Dalai Lama als Reinkarnation des Buddhas des Erbarmens. Die jüdische Tradition setzt auf Gottes Erbarmen, verwoben mit Recht und Gerechtigkeit. Schließlich überliefert Lukas als Mitte der Verkündigung Jesu dessen Gleichnis vom Erbarmen des Vaters und seinen zwei verlorenen Söhnen, in der Hoffnung, dass auch die Kirche wie der Vater wird: also eine Pastoral des Erbarmens wagt. Es sind die bockbeinigen Ideologen, die heute in der katholischen Kirche einer solchen Praxis des Erbarmens im Wege stehen, während die wirklichen Hirten sie praktizieren.

Das ist also die Doppelaufgabe der Kirche, vom Blick auf die Vollendung der Welt her entworfen. Sie enthüllt das gute Ende, auf das hin die Geschichte am Ende der Zeiten (1 Kor 10,11) unterwegs ist. Und sie heilt von allen dämonischen Gegenmächten, die den Weg dorthin durchkreuzen, von Angst und daraus erwachsend Gewalt Gier und Lüge.

Um ihre eigene Zukunft braucht eine dergestalt handelnde Kirche dabei nicht besorgt zu sein. Denn ihr innerstes Wesen besteht darin, sich in Jesu Art zu verausgaben und nicht den eigenen Bestand zu sichern.

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