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Causa: Patient gegen Arzt

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Worin bestehen die Gründe für den wachsenden rechtlichen Normierungsbedarf im Bereich der Medizin, der auch Gefahren in sich birgt?

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Worin bestehen die Gründe für den wachsenden rechtlichen Normierungsbedarf im Bereich der Medizin, der auch Gefahren in sich birgt?

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Der technische Fortschritt in der modernen Medizin hat zu einem alle bisherigen Vorstellungen überschreitenden dynamischen Wachstum der ärztlichen Handlungsalternativen geführt. Eng damit verbunden ist auch ein enormes Anwachsen des rechtlichen Normierungsbedarfes innerhalb des Spektrums medizinischer Tätigkeit. Die spektakulären Fälle der jüngsten Zeit (etwa das „Erlangener Baby“) bieten genügend Anschauungsmaterial, bilden aber nur die Spitze eines Eisberges im Rahmen eines vielleicht weniger spektakulären, aber in seiner Intensität doch bemerkenswerten Gesamtprozesses der Verrechtlichung der modernen Medizin. Welchen Stellenwert besitzt das Recht innerhalb dieses Entwicklungsprozesses? Wo liegen dessen Chancen, wo seine Grenzen?

Die Gründe für den Normierungsbedarf sind vielschichtig und haben ihren Ort im Spannungsfeld von Medizin, Ethik und Recht. Der technische Fortschritt in der Medizin hat mit der progressiven Steigerung ärztlichen Wissens und Könnens zu gewichtigen Problemen in der Perspektive seiner praktischen Anwendung geführt. Denn es erhebt sich die unabweisbar zu entscheidende Frage nach praktischen Regulativen, die für dieses neue Können Kriterien, Ziele und Grenzen seiner Anwendung anzugeben vermögen.

Lange Zeit waren solche praktische Regulative ärztlichen Handelns indes nicht primär Gegenstand des Rechts, sondern blieben vornehmlich der individuellen ethischen Kompetenz des Arztes und im besonderen Maße dem ärztlichen Standesethos unterstellt, dem man weithin die Fähigkeit zumaß, medizinische Entscheidungsprobleme auf eine allgemein vertretbare Weise zu bewältigen. Diese Situation hat sich heute entscheidend geändert, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen sieht sich das ärztliche Standesethos durch den Grad der Spezialisierung, Technisierung und Anonymisierung der modernen Medizin nicht mehr in der I.age, das medizinisch-technische Wissen in ausreichendem Maße praktisch zu gewichten und ip seiner Anwendung zu begrenzen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer für die gegenwärtige Situation signifikanten „Dissoziation von wissenschaftlicher und ethischer Kompetenz“ (Honnefeider).

Dazu kommt, daß wir uns heute mit dem Phänomen der Säkularisierung beziehungsweise Pluralisierung ethischer Positionen konfrontiert sehen. Dies führt dazu, daß zahlreiche Probleme der modernen Medizin (es sei nur auf die aktuellen Diskussionen um die Grenzen der Intensivmedizin, um Euthanasie und Gentherapie verwiesen) sehr kontroversiell beantwortet werden, gleichwohl aber entschieden werden müssen.

Die Bewältigung dieser Probleme mutet man dann in zunehmendem Maße dem Recht zu, das dabei die unterschiedlichsten Funktionen erfüllen soll: Es soll, folgt man den Differenzierungen Albin Esers, zum ersten Schutzfunktionen im Hinblick auf die Garantie elementarer Rechtsgüter übernehmen. Im weiteren soll es der Abwehr von Mißbräuchen dienen, und zwar gerade in Bereichen, in denen die ärztliche Standesethik überfordert wäre. Es soll durch eindeutige und präzise umschriebene Normen dem Handeln taugliche

Richtlinien zur Orientierung bieten und durch allgemeine Verhaltensregeln der Stabilisierung von wechselseitigem Vertrauen dienen.

Das Recht sieht sich so in seinem Leistungsvermögen nicht nur herausgefordert, sondern vielfach auch strukturell überfordert, wenn es angesichts der Diversität ethischer Auffassungen gleichwohl eindeutige juristisch-pragmatische Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung stellen soll. Bedenkt man, daß das Recht bei dieser Aufgabenstellung seinerseits auf ethische Grundorientierungen verwiesen bleibt, so ergibt sich daraus notwendigerweise seine Überforderung, weil die ihm abverlangten Eindeutigkeiten sachlich keineswegs unkontrovers bleiben können.

MEHR PATIENTENRECHTE

Zu verstärkter Verrechtlichung führte weiters eine veränderte Sicht des Verhältnisses von Arzt und Patient. Die dezidierte Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten hatte zur Konsequenz, daß dessen Einwilligung zum Heileingriff und - als Voraussetzung — dessen adäquate Aufklärung zu zentralen juristischen Kriterien einer rechtlich ver

antwortbaren therapeutischen Situation wurden. Die Beurteilung des Erfolgs einer solchen Verrechtlichung muß indes ambivalent bleiben.

Einerseits bedeutet die Anerkennung und Ausgestaltung von Patientenrechten gewiß einen Fortschritt in dem Bemühen, die Eigenverantwortlichkeit des Patienten zu stärken und ihm auch im Falle mißbräuchlichen beziehungsweise fehlerhaften ärztlichen Handelns adäquate juristische Instrumentarien zur Verfügung zu stellen. Andererseits sind damit auch wesentliche Nachteile verbunden: Etwa in der Ausbildung eines überzogenen Anspruchsdenkens auf medizinische Leistungen, vor edlem aber in der Tendenz, die therapeutische Situation durch die Überlagerung mit juristischen Kategorien letztlich zu verschlechtern.

Denn der Arzt, der im Patienten nicht bloß den zu Heilenden, sondern auch den möglichen Gegner im juristischen Streit zu sehen hat, kann im Bestreben, juristisch vorwerfbares Handeln tunlichst zu vermeiden, dazu tendieren, nicht das therapeutisch Sinnvolle zu tun, sondern in Überdiagnostik oder in bloße Defensivmedizin abzugleiten. Daran zeigt sich die grundsätzliche Schwierigkeit, sittliche Verantwortung juristisch zu rechtfertigen.

Was die Beurteilung der Bedeutung des Bechts im Bereich der Medizin betrifft, so manifestiert sich gerade in den Stellungnahmen der Arzte eine bemerkenswerte Diskrepanz. Zum einen wird Kritik gegenüber dem Recht artikuliert, weil ärztliches Handeln von rechtlichen Vorschriften tunlichst unabhängig, nur nach dem individuellen Ermessen gestaltet sein möchte. Man will von Reglementierungen frei sein, die die therapeutische Tätigkeit behindern. Auf der anderen Seite wird gleichwohl der Ruf nach gesetzlichen Bestimmungen laut, die in der Lage sind, den Rahmen des Zulässigen präzise zu umschreiben und damit exakte Grenzen zivil- beziehungsweise strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu ziehen. Man erwartet sich vom Recht institutioneile Entlastungswirkungen in einem ohnedies risikobehafteten Feld des Handelns und mißtraut „elastischen“ Normen, deren Inhalt sich oft erst über diffizile Abwägungsprozesse gewinnen läßt.

Solche Erwartungen müssen aus juristischer Perspektive enttäuscht werden, da das Recht, will es nicht in starre Kasuistik abgleiten, die Konkretheit praktisch-situativer Anforderungen nur dann zu erfassen vermag, wenn es ihnen gegenüber offen und solcherart flexibel bleibt. Sinnvolle rechtliche Lösungen, das heißt solche, die auf medizinische Gegebenheiten Rücksicht nehmen und dabei doch den rechtsethischen Anforderungen genügen, werden sich nur erzielen lassen, wenn sie auf der Basis gelingenden interdisziplinären Zusammenwirkens erarbeitet werden.

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