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An der Sokolbewegung kommt niemand vorbei, der die tschechische Mentalität verstehen will. Von 1. bis 6. Juli lädt sie wieder zu ihrem großen Fest nach Prag ein.

Zuerst die Eishockey-, jetzt die Fußballweltmeisterschaft: Wenn die Herzen der Tschechen ohnehin schon höher schlagen, ist es schwer, sie für ein weiteres Sportereignis zu erwärmen. Einen Monat vor dem XIV. Sokolfest wurde in den Prager Metro-Aufgängen pikanterweise das "SÇportsÇtyk" von Elfriede Jelineková beworben; doch schon im September hatte eine Stafette von Radfahrern, Läufern, Reitern und Ruderern die Botschaft vom Sokol (=Falke) und seinem Fest in alle Landesteile hinausgetragen und den Startschuss für den Übungsbeginn abgegeben.

Die Tradition der Abhaltung des Turn-und Kulturfestes alle sechs Jahre und der Termin Anfang Juli, wenn Cyrill und Method sowie Jan Hus den Tschechen gleich zwei arbeitsfreie Tage hintereinander bescheren, machten eine Verschiebung undenkbar. Und die Veranstalter können darauf bauen, dass die Sokolbewegung und ihr nunmehr schon drittes "Allsokolfest" nach der Wende ihren festen Platz in der tschechischen Gesellschaft wieder gefunden haben. Vorbei sind zwar die Zeiten, da der "Falke" eine Million Mitglieder zählte und das große Stadion in Strahov mühelos mit 250.000 Menschen gefüllt werden konnte. Heute begnügt man sich mit dem daneben gelegenen kleineren RosÇicky´-Stadion und hat sich die Mitgliederzahl auf etwa 200.000 eingependelt. Die Altersstruktur - 51 Prozent der Mitglieder sind unter 26 Jahren alt - berechtigt freilich zu großen Hoffnungen.

Sport-und Kulturfest

"Unser Problem ist die mittlere Generation, die unter den Bolschewiken aufgewachsen ist und beim Verband für Leibesübungen oder bei der Organisation ,Sport für alle' geblieben ist, wo sie ihre Freunde haben. Das hat nichts mit ihrer politischen Ausrichtung oder ihrem Charakter zu tun", meint Jaroslav Bernard, Jahrgang 1938 und seit 2003 als Starosta (wörtlich "Ältester") der höchste statutarische Repräsentant der Tschechischen Sokolgemeinde. "Eine ganze Reihe des Sokol-Urgesteins ist 1948 oder 1968 emigriert, aber eben nicht alle. Was sollte ein Turnlehrer denn tun, wenn der Sokol verboten war?" Auch müsse man zugeben, dass das erste große Sokolfest nach der Samtenen Revolution ohne das Knowhow jener Sokolleute, die in der kommunistischen Zeit die so genannten Spartakiaden organisiert hatten, nicht möglich gewesen wäre.

Heute scheinen die Konflikte auch mit der internationalen Sokolbewegung, die im Westen den demokratischen Grundgedanken hochgehalten hatte, weitgehend ausgestanden. Denn so tolerant die C´eská obec sokolská gegenüber Einzelpersonen ist, so entschieden lehnt sie eine Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei ab. Ansonsten versteht sie sich als überparteiliche und überkonfessionelle Organisation, während etwa der "Orel" der katholischen Kirche nahesteht (der "Adler" hatte sich 1907 wegen der Verherrlichung der hussitischen Vergangenheit vom Sokol abgespalten; heute ist auch das Verhältnis zwischen diesen beiden Verbänden freundschaftlich).

Schule der Nation

Man sehe sich als "Verband der anständigen Leute", erklärt Jaroslav Bernard: "Durch die totalitäre Devastierung und die Entwicklung des Frühkapitalismus danach sind die moralischen Werte deutlich verfallen. Der Kampf um den anständigen Menschen wäre allein schon verdienstvoll."

Darüber hinaus sei die "Sittlichkeit", von der in den Sokol-Statuten die Rede ist, nicht kodifiziert. "Wir müssen modern sein. So zu tun, als hätte die Jugend etwa keine vorehelichen Beziehungen, wäre Heuchelei." Leitlinie sei "das Bemühen, den Schwächeren zu helfen". So denke man derzeit intensiv über spezielle Programme für Senioren nach, die oft unter großer Einsamkeit litten und denen man "das Leben auf gewisse Weise erfüllen" möchte. Dafür sei der Sokol, der von Anfang an nicht auf Spitzensport, sondern auf das physische und psychische Wohl der Volksgemeinschaft ausgerichtet war, prädestiniert.

Die Gründung der Sokol-Bewegung im Jahr 1862 fiel zusammen mit dem neu aufkeimenden österreichischen Parlamentarismus. Im Sokol sollten die Tschechen Zusammenhalt, Disziplin und überhaupt den aufrechten Gang lernen; die von Österreichern beklagte Widerborstigkeit tschechischer Kellner - hier wurde sie eingeübt. Als Gründer gelten Miroslav TyrsÇ, sozusagen der Turnvater Jahn der Tschechen (die deutschen Turnverbände sollten den Sokol als nicht minder kämpferisches Gegenüber begleiten, bis der Turnlehrer Konrad Henlein die Sudetendeutschen in den Untergang führte), sowie Jaroslav Fügner, der die straffe Organisation schuf, die einerseits basisdemokratische Züge von der Einheit über den Gau bis zur nationalen Gemeinde aufweist, andererseits den Funktionären ein gewichtiges Wort einräumt.

Jagten schon die großen Sokolfeste mit ihren Massenauftritten und-umzügen durch Prag (das erste fand 1882 statt) der Regierung in Wien gehörigen Schrecken ein, so wurde es vollends Ernst, als sich die tschechischen Legionen, die im Ersten Weltkrieg gegen Österreich kämpften, überwiegend aus Sokol-Aktivisten rekrutierten. In der jungen Tschechoslowakischen Republik sorgten zunächst Sokoln für Ruhe und Ordnung und trugen dann maßgeblich zum Aufbau der neuen Armee bei. Auch am Widerstand gegen Hitler waren sie, so wie der "Orel", führend beteiligt; der Starosta kam in Auschwitz zu Tode.

Sokol-Halle in jedem Ort

"Schon dies, dass dieses Volk nicht unterging, da so viel Blut aus seinen Wunden floss, ist nicht zuletzt auch euer Werk", dichtete der spätere Nobelpreisträger Jaroslav Seifert in einem "Gruß an das Sokoltum". Miroslav TyrsÇ, zuletzt Professor der Ästhetik an der Karlsuniversität, hatte im Sinne der antiken kalokagathia (Übereinstimmung des Guten und Schönen) für die Einbindung aller schöpferischen Kräfte in die Bewegung gesorgt. Ignác Ullmann, damals der führende Prager Architekt, entwarf 1864 die erste Turnhalle. Kaum ein Ort von nennenswerter Größe in der Tschechischen Republik, der nicht mittlerweile über eine Sokolovna verfügt, in der Sport betrieben, aber auch der Kultur gefrönt wird - derzeit zählt man 62 Theater-, 34 Puppenspiel-und 11 Folkloreensembles, 17 Chöre sowie 25 Instrumentalgruppen, wobei die Jazzformationen sichtlich im Vormarsch sind.

Mit LeosÇ JanácÇeks "Sinfonietta", aus Fanfaren entwickelt, die der Komponist für das Sokolfest von 1926 geschaffen hatte, fand der Sokol Eingang in den Kanon der Weltmusik. Entwürfe von Alfons Mucha für ein großes Spektakel auf der Moldau im Rahmen desselben Festes zum Thema "Brüderliches Slawentum" waren kürzlich in der Modernen Galerie der Stadt Prag zu sehen.

Öffnung nach Europa

"Die ist gar nichts allzu sehr", meint Jaroslav Bernard auf den Einwurf, die tschechische Jugend von heute sei wohl nicht allzu national eingestellt. Heute sei der Kampf gegen Drogen oft vordringlicher als die Erziehung zur Vaterlandsliebe, räumt er ein und steht auch nicht an, den übersteigerten "Anflug des Patriotismus", der in der Vergangenheit gegen Österreich gerichtet war, mit einem Fragezeichen zu versehen. Der Sokol sei eben "unter bestimmten innen-und außenpolitischen Bedingungen" entstanden; heute könne Österreich mit seinem Verhalten in der Europäischen Union den Tschechen sogar ein Vorbild sein.

Gern spricht der Starosta von Ötz in Tirol, wo alljährlich des in der Ache ertrunkenen Miroslav TyrsÇ gedacht wird; ein dort heuer zu Pfingsten gebrochener Stein wird während des Sokolfestes am TyrsÇ-Haus in Prag eingemauert werden. Und mehrmals erwähnt der Technik-Dozent den Sokol in Wien, der vor drei Jahren in Favoriten ein neues Gebäude in den tschechischen Farben Weiß-Rot-Blau errichtet hat.

Es könne die Sokolbewegung "gerade in der gegenwärtigen Zeit etwas zur nationalen Bewusstwerdung der Mitbürger beitragen, damit uns in der Europäischen Union etwas Eigenes erhalten bleibt", meint Jaroslav Bernard. Unter der TyrsÇ-Büste in seinem holzgetäfelten Büro hängt aber auch eine Auszeichnung der unseco, die der Sokol für Fairplay und insbesondere für die Gleichberechtigung der Frauen erhalten hat. Das Alte und das Neue scheint hier gerade eine Symbiose einzugehen, und LeosÇ JanácÇek würde die Sokolbewegung heute kaum mehr als Faust charakterisieren, die für das tschechische Volk ebenso wichtig sei wie das Herz ...

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