Jazz wird wieder POLITISCH

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Jazz ist ein Projekt mit offenem Ausgang, ein Beispiel für Lebendigkeit der Kulturen, eine politische Kraft. Nachlese zum Jazzfestival Saalfelden.

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Jazz ist ein Projekt mit offenem Ausgang, ein Beispiel für Lebendigkeit der Kulturen, eine politische Kraft. Nachlese zum Jazzfestival Saalfelden.

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Jazz hat mehr als jede andere Kunstform den Eklektizismus zu seiner eigenen Sache erklärt. Dass er das, was immer ihm unterkommt, sich anzueignen und derart umzuwandeln vermag, dass etwas wahrhaft Unerhörtes dabei herauskommt: Das macht seine Stärke seit seinen Anfängen aus. Das Neue entsteht aus etwas bereits Vorhandenem und wird in neuen Mischungsverhältnissen im Experimental-Laboratorium einer kritischen Vernunft hergestellt. Das ist ein Projekt mit offenem Ausgang, weil nicht nur jedes einzelne Konzert sich seine eigenen Spielregeln entwirft, sondern weil auch nicht absehbar ist, welche Einflüsse hoher oder niedriger Kunst noch schlagend werden.

Jazz erkennt kulturelle Grenzen prinzipiell nicht an. Alles, was einmal musikalisch erdacht und durchgespielt worden ist, kann zum Material werden, dient als Entwicklungshelfer auf dem Weg zu neuen Klängen. Die Improvisation hält all diese Bemühungen zusammen. Das, was eigentlich nicht unter einem Dach hätte miteinander auskommen müssen, gerät miteinander in Berührung. Ob jemand im Sudan fündig wird, in Malaysia oder Argentinien ist nicht von Belang. Musikalische Formen und Muster werden aufgegriffen, um sie in andere Zusammenhänge einzubauen.

Spirituelle Erfahrung

Die beiden australischen Musiker Scott Tinkler (Trompete) und Simon Barker (Schlagzeug) sind durch Zufall auf den koreanischen Sänger Bae il Don gestoßen und waren derart fasziniert von seiner Stimmkraft, dass sie umgehend beschlossen, mit ihm ein eigenes Programm zu erarbeiten. Die Biografie des Koreaners ist von Mythen umrankt, die aber immerhin etwas aussagen über seine Vorstellung davon, was Musik bewirken soll. Angeblich hat er sich jahrelang in einem Camp am Fuß des Berges Chiri in der Nähe eines Wasserfalls aufgehalten, wo er täglich bis zu 18 Stunden seine Stimme trainiert haben soll. Man kann sich denken, dass stimmlich gegen einen Wasserfall anzukämpfen einen enormen Kraftakt erfordert, der ein gutes Maß an Selbstverleugnung notwendig macht.

"Chiri" nennt sich die Band, die im Rahmen des 37. Saalfeldener Jazzfestivals auftrat und einen vergessen ließ, was man bislang an Jazz schon gehört hatte. Musik, das wurde einem bald einmal klar, kann eine Form spiritueller Erfahrung sein. Ohne intellektuelle Kontrolle geht gar nichts, aber was dieses Trio zum Vorschein bringt, ist das hörbare Ergebnis einer langen Reise durch das eigene Selbst. Das ist anstrengend nicht nur für die Interpreten, sondern auch für das Publikum und schmerzhaft obendrein, zumal es mitbekommt, wie hier ein Selbstverhör der Seele unternommen wird.

Jazz, konnte man von kritischen Beobachtern der Szene immer wieder hören, habe seine ursprüngliche Kraft verloren. Glatt und bekömmlich bediene er Bedürfnisse einer Öffentlichkeit, die sich nicht gerne verunsichern lasse. Reihenweise gingen Schüler von Jazzakademien ab, technisch versiert, theoretisch beschlagen und musikhistorisch informiert, aber auf der Strecke bliebe das Individuelle. Gut möglich, dass nach der großen Aufbruchbewegung, die zum Free Jazz geführt hatte und die sich nicht nur als künstlerisches Projekt, sondern als soziale Bewegung verstanden hatte, in Jahren relativer politischer Ausgeglichenheit die Notwendigkeit abhanden gekommen war, sich ästhetisch riskant zu verhalten. Jazz ist Ausdruck einer Kultur auch dann, wenn Stillstand herrscht. Dann gibt er sich bescheiden, variiert das bereits Erreichte, verlässt sich auf Virtuosität und Gleichmut. Aber so wie es ein Ende der Geschichte nicht geben kann, kommt auch der Jazz an kein Ende. So ist es kein Zufall, dass das Saalfeldener Festival in diesem Jahr wie eine politische Stellungnahme aussah. Es ist eben heute nicht mehr selbstverständlich, dass andere Kulturen als gleichberechtigte Partner behandelt werden.

Gegensätze zusammengeführt

Die Cellistin Tomeka Reid entstammt der Chikagoer AACM-Szene, die in den aufgewühlten 60er-Jahren gegründet wurde und ästhetischen Aufbruch verstand als Aufruf zur Befreiung von restriktiven gesellschaftlichen Zuständen. Reid sieht sich mit ihren 39 Jahren wieder politisch unter Druck, immerhin randaliert gerade Donald Trump als Präsidentschaftskandidat auf unberechenbare Weise. Diese Musikerin aber ist eine der Stillen, eine überaus überlegt vorgehende Künstlerin, die in ihrem Quartett ihren Widerstand derart zum Ausdruck bringt, dass sie das Gegensätzliche zusammenführt, auf die Tradition der Underdogs aus dem Blues ebensowenig vergisst wie auf die Verteidiger der reinen Schönheit. Reid ist klassisch ausgebildet und von der Improvisation fasziniert. Das Schroffe und das friedlich Schöne, hier finden sie zusammen. Jazz wird heute politisch einfach deshalb, weil es die Verhältnisse nicht anders zulassen. Ein so sanftes Wesen wie Tomeka Reid wirkt wie die Antithese der Vielfalt und Komplexität gegen erschreckend einfache Welterklärungen. Jazz nimmt das Fremde in sich auf, grenzt nicht aus, das allein macht ihn heute verstärkt zu einem politischen Gegenentwurf zum Populismus. Kein namhafter Musiker wird sich zur Verfügung stellen für Wahlveranstaltungen von rechts.

Wie sieht eine Jazz-Sozialisation heute aus? Lukas Kranzelbinder hatte in diesem Jahr das Glück, ein Projekt ganz nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten zu dürfen. Er stellte das Septett "Shake Stew" zusammen und bekam die Gelegenheit, das Programm mehrere Tage lang in Saalfelden einstudieren zu dürfen. Als Altsaxophonisten hatte er sich Clemens Salesny gewählt, 1980 in Scheibbs geboren, heute in Wien lebend. Mit zwölf Jahren las er die Biographie von Miles Davis, hörte sich Jazz chronologisch beginnend mit Louis Armstrong an und war in seinen Anfängen, wie auf dem Land üblich, fest verankert in der örtlichen Musikkapelle. Er sagt, dass er Jazz spiele, Abgrenzungen zu improvisierter Musik kenne er nicht. Erst später, als er mit Jazz vertraut war, kamen Rockeinflüsse dazu, Frank Zappa oder Jimi Hendrix. Diese musikalische Herkunft spielt mit in einer Band, die mit einer doppelten Rhythmusgruppe, zwei Bassisten, zwei Schlagzeugern, auftritt. Das Konzept stammt vom großen Neuerer, der den Weg zum Free Jazz ebnete, Ornette Coleman. Melodie und Rhythmus sind stilprägend für "Shake Stew", wenn man gut aufpasst, hört man auch ein Bluesfeeling heraus. Auch eine Band, die Verbindungen schafft, die nicht erwartbar sind und mit einem ausgeprägten Eigencharakter aufwartet.

Lehrstück in Demokratie

Jazz heute ist spirituell, er ist politisch und er kommt von Leuten mit starkem Willen. Die Freiheit des Einzelnen ist nur so groß, dass dieser mächtige Wille, einem Ich Ausdruck zu verschaffen, die anderen in der Band nicht beeinträchtigt. Somit gibt er ein Lehrstück in Demokratie ab. Der Einzelne bleibt angewiesen auf seine Band, auf die er reagiert. Die Band lässt dem Einzelnen seinen Spielraum auf Zeit, so lange jedenfalls, bis ein anderer sich ein Solo einfallen lassen darf. So sieht die ideale Gesellschaft in Miniaturformat aus. Der Jazz, ob er will oder nicht, hat sich heute wieder zu einer politischen Kraft entwickelt.

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