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Das falsche Dogma

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Wir stehen am Ende eines zweiten Dreißigjährigen Krieges. Seit dem Jahre 1914 sind immer neue Sturmfluten über die europäischen Völker dahingebraust und alle Völker, die Sieger nicht weniger als die Besiegten, haben unermeßliche Opfer an Gut und Blut bringen müssen. Wie konnte es zu dieser Selbstzerfleischung des altehrwürdigen Abendlandes kommen, die zu einem gewaltigen Totentanz sich zu steigern droht, wenn nach dem letzten Weltkriege die Völker nicht endlich lernen sollten, Gerechtigkeit und Menschlichkeit als die Maßstäbe und Leitideen ihres Handelns zu achten? Wieso konnten die Dämoi\en alle Dämme der Vernunft und Gesittung zerstören und ein Barbarentum aus unserer Mitte heraus entstehen, das uns das Antlitz vor Trauer und Scham verhüllen läßt? Die europäische Katastrophe hat viele Ursachen. Wer möchte wohl den Mut haben, keck und vorschnell Schuld und Verantwortung in einem so verworrenen und vieldeutigen Geschehen festzulegen?

Dennoch können wir, ohne Gefahr zu laufen, ein übereiltes Urteil zu fällen, die Überwältigung des abendländischen Gedankens durch eine oft sehr primitive Lehre vom Kampf ums Dasein neben anderen Prozessen in der geistigen und seelischen Entwicklung der europäischen Nationen für all das Elend verantwortlich machen, das über uns hereingebrochen ist.

Das viel und gern geglaubte Dogma vom Kampfe ums Dasein, bald militaristisch gesehen wie vielfach in preußischen Offizierskreisen, bald handelspolitisch gesehen wie in manchen englischen Kreisen um die Jahrhundertwende, schließlich verhängnisvoll vereinfacht zu einem Prinzip des Rassenkampfes, dieses Dogma mußte letzten Endes zu schrecklichen Kämpfen führen, in denen alle Konventionen und Spielregeln, die bis dahin trotz aller Gebrechlichkeit das i Zusammenleben der Staaten bestimmt hatten, beiseite geschoben wurden. Das ehrwürdige alte Gebäude der europäischen Staatenwelt, nach dem Bauprinzip des europäischen Gleichgewichtes errichtet, fiel krachend zusammen.

Zu den Opfern des europäischen Zusammenbruchs zählt vor al'em die Österreich-ungarische Monarchie, die als dem Untergange geweiht zu betrachten, vor dem ersten Weltkrieg gewissermaßen zum guten Ton in manchen europäischen Zentren gehörte — leider auch in London, wo der große Staatsmann Sahsbüry als erster in der Skepsis gegenüber der Donaumonarchie so weit ging, daß er mit deren Zerfall zu rechnen begann. Diese Gedankengänge entbehrten vom Standpunkte des damaligen Zeitgeistes nicht einer gewissen Logik. Welchen Beruf konnte dieser aus zehn Nationalitäten zusammengesetzte Großstaat haben, wenn die nationalstaatliche Idee allgemein als die einzig natürliche angesehen wurde? Wozu noch der die Sicht trübende deutsch-englische Gegensatz verschärfend hinzutrat, der in London und Berlin alle politischen Potenzen vom Gesichtpunkte der drohenden deutsch-englischen Auseinandersetzung sehen ließ Genug, das Habsburgerreich wurde als ein komisches Überbleibsel aus vergangenen Zeiten angesehen, dem kein positiver Sinn mehr inne wohne.

Wohin eine biologistis-lie Gesui'chts-betrachtung führen konnte,' wird aus einem Aufsatz deutlich, der'am 1 Februar 1896, also vor fünfzig ) 'iren. in der „Saturday Review“ erschien und den Titel trug: „Eine biologische Betrachtung unserer Außenpolitik von einem Biologen“. In dieser Betrachtung hieß es unter anderem:

„In einer Untersuchung, wie sie hier vorgenommen wird, bedeuten die kleineren Nationen die Schweiz, Spanien und Portugal, Holland, Belgien, Griechenland und die Balkanstaaten füglich nichts! Es handelt sich bei ihnen um in ihrer Heimat geschützte Arten, die dank der Gunst ihrer Nachbarn und also unter künstlichen Verhältnissen in Frieden leben. Bei Österreich vermag man nicht einmal von einer in ihrer Heimat geschützten Art zu sprechen. Österreich gleicht vielmehr einer von Karl Hagenbecks glücklichen Tierfamilien, es besteht aus einem wirren Gemisch von Menschenschlägen, die nur unvollkommen an das Zusammenleben gewöhnt sind und die größte Wachsamkeit der Wärter nötig haben. Wenn der Todeskampf der Arten beginnt, werden aber die Schutzgitter, davon die künstlichen Spielarten umgeben waren, zusammenfallen, und die nun Ausbrechenden werden sich denen gesellen, zu denen sie natürlich gehören.“

Fürwahr, fast schon eine zoologische Gischichtsauffassung. Wenn sie in weiteren Kreisen Eingang fand, mußte sie einen fruchtbaren Boden für Massenstimmungen abgeben, die, hatten einmal die Waffen zu sprechen begonnen, wenig Raum für einen Frieden der Vernunft geben mußten. Und sie fand Anklang. Schon im ersten Weltkrieg war es unmöglich die großen Staaten rechtzeitig zu einem Verständigungsfrieden zusammenzuführen, der zweite Weltkrieg aber mußte noch furchtbarer werden, gab es in ihm doch kein großes Österreich mehr, das gemäß seiner ganzen Existenz zu einem Ausgleich neigen mußte — der im ersten Weltkrieg von ihm, wenn auch vergeblich, doch versucht worden war. Die Verfechter des Biologismus in der Geschichtsbetrachtung haben Recht behalten. Sowohl der Engländer Sir P. Chalmers Mitchell, der sich später als der „prophetische“ Verfasser des oben angeführten Aufsatzes in der „Saturday Review“ bekannte, als auch auf deutscher Seite etwa Generaloberst von Seeckt, der noch während des ersten Weltkrie ges von der Notwendigkeit eines neuerlichen späteren Waffenganges zwischen Deutschland und England sprach, bis einer der beiden Gegner endgültig zu Boden geworfen sei. Die Theoretiker der unerbittlichen staatlichen Daseinskämpfe können zwei furchtbare Weltkriege als Bestätigungen ihre'r Lehren anführen. Dennoch können wir nicht umhin, daran festzuhalten, daß ihre Logik mit Weisheit wenig, vielleicht nichts gemein hat. Will man nicht einem Dogma von der Unfreiheit des menschlichen Willens huldigen, ist man nicht bereit, vor einem angeblichen biologischen Gesetz des geschichtlichen Werdens zu kapitulieren, das mit der Ausschaltung von Moral und Vernunft als gestaltenden Kräfte der Geschichte gleichbedeutend wäre, dann wird man in der Lehre vom unausbleiblichen Rassenkampf der Völker eine Trrlehre sehen müssen. Und in der Tat, die Versuche, in der UNO. eine Vereinigung aller Nationen erstehen zu lassen, die künftighin ähnliche Auseinandersetzungen wie den letzten Weltkrieg unmöglich machen soll, bedeuten nichts anderes als eine Absage an den Biologismus der letzten Epochen, der mit Recht den politisch führenden Kreisen Deutschlands in dieserrf Weltkrieg als Schuld angelastet wird und der wohl bereits 1914 manche deutsche Schicht, vor allem die militärische, gekennzeichnet hat, der aber auch auf der anderen Seite seine Verfechter hatte und der deshalb, selbst wenn er eine psychische Zeitkrankheit darstellen sollte, das Bewußtsein wecken müßte, daß alle Völker, Besiegte und Sieger, Einkehr zu halten, daß alle Nationen sich einer moralischen S e 1 b s t p r ü f u n g zu unterziehen haben, ob nicht auch sie oft dem Geiste des Biologismus verfallen sind, den sie beim jeweiligen Gegner so leicht wahrnehmen. Der österreichische Mensch aber kann bei einer objektiven Betraditung der letzten Epochen der europäischen Geschichte neben allem * Schmerz über den Untergang des alten Donaureiches doch eine moralisdie Genugtuung darüber empfinden, daß der geistlose Biologismus, der sich selbst ad absurdum geführt hat, seine erste große Tat unschöpferischer Unvernunft in der Zerstörung der Donaumonarchie gesetzt hat, jenes Reiches, das bei allen ' 'wachen wahrlich kein Hagenbeckscher * lergarten, sondern eine Welt im Kleinen war, von deren Bestand das Gleichgewicht des alten Kultureuropa abhing.

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