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Das andere Tokio

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Gegen 70 Prozent der japanischen Bevölkerung leben heute in den großen Städten an den Küsten der Inselgruppe. Japan war schon früher und ist auch heute noch das kinderreichste Land der Welt. Seine hohe Geburtenziffer erreicht 28 Promille. Eine millionenfache jährliche Bevölkerungszunahme ist für ein Inselreich, das sich, wie Japan, aus einem kärglichen Boden und dem Meer kaum zur Hälfte selbst ernähren kann, eine schwere Hypothek. Das ständige Anwachsen der städtischen Einwohnerziffern drängt auch das neue Japan immer weiter auf dem Wege einer hemmungslosen Industrialisierung. Dieser technischen Entwicklung kommen u. a. auch einige hervorstechende Eigenschaften des Japaners stark entgegen: er verfügt über eine rasche Auffassungsgabe und große Anpassungsfähigkeit, ist geschickt, reinlich und fleißig, wie die Biene.

Diese für das japanische Volk allgemein geltenden Eigenschaften, eine ihm ebenfalls eigene,an Fanatismus grenzende Zielstrebigkeit und die amerikanische Besetzung des Landes ließen es die Kriegsverluste an Menschen und Sachwerten verhältnismäßig rasch überwinden. Schon kurz nach der Kapitulation im September 1945 nahm ein totaler Umbruch der japanischen Welt seinen Anfang und hat sich seither bis in die persönlichste, private Sphäre hinein vollzogen. Hand in Hand mit der rapid fortschreitenden Industrialisierung und Erneuerung der gesamten Wirtschaft, ging eine große Umwälzung im öffentlichen und privaten Leben vor sich, die auch vor einer Wandlung der Gefühlswelt nicht Halt machte. Der Umbau der materiellen Lebensführung und das schnelle Ausbreiten der christlichen Weltanschauung haben in Japan von Grund auf neue Verhältnisse geschaffen, die immer weniger von jenen unserer eigenen, westlichen Welt abweichen.

Daß diese Modernisierung ein typisch amerikanisches Gepräge hat, ist kaum anders zu erwarten, denn es waren amerikanische Besatzungssoldaten und es sind amerikanische Techniker und Wissenschaftler, amerikanische Wirtschaftsfachleute, deren Tätigkeit höchst wirksam ist. Je weiter aber diese Amerikanisierung des japanischen Lebens fortschreitet, desto mehr wird Tokio, die drittgrößte Stadt der Erde, zum Spiegel der neuen Verhältnisse Nirgendwo treten einem die umwälzenden Neuerungen, amerikanisches Tempo und Yankeelebensstil so anschaulich vor Augen, wie in der Hauptstadt mit ihren neuen Wolkenkratzern, modernen Vergnügungsstätten, amerikanischen Autobussen und chromblitzenden Limousinen. Auch das stete Anwachsen der „westlichen“ Großstadt im fernsten Osten ist amerikanisch: 1946 zählte Tokio 6,8 Millionen Einwohner. Neun Jahre später hat es bereits die 8-Millionen-Grenze überschritten, und wenn die-Entwicklung im bisherigen Tempo weitergeht, wird es in einem weiteren Dezennium die Einwohnerziffer Londons erreicht haben.

Während im Geschäfts- und Vergnügungszentrum der japanischen Metropole riesige Geschäftshäuser aus den Fundamenten herauswachsen, ganze Straßenfassaden über Nacht ihr Aussehen modernisieren, neuzeitliche Hotels, Restaurants, Bars und Vergnügungstempel das Alte, Ueberlebte verdrängt haben, schießen draußen im Osten der Stadt, in Matuno-uchi, modernste Fabriken, wie Pilze aus dem Boden und an den PeripHerlen erstehen in luftig-grünen Kolonien Wohnstätten für Tausende von Arbeiterfamilien sozusagen am Fließband.

Schon die neuen Straßenbezeichnungen passen sich dem amerikanischen Zeitalter an, und ein Blick auf die Z-Avenue vermittelt uns das Bild einer x-beliebigen amerikanischen oder europäischen Großstadt. Achtzylindrige Straßenkreuzer, Autobusse und Untergrundbahn bewältigen einen Riesenverkehr, und wären nicht — als Ueberbleibsel einer heute schon fremd wirkenden Epoche — die unzähligen Reklameschilder und Verkehrstafeln in japanischer Schrift, würde uns kaum etwas ahnen lassen, daß wir uns im Fernen Osten befinden.

• Das ist das moderne Gesicht des neuen Japan. Aber, wie überall in der Welt und im Leben, hat auch diese Medaille ihre Kehrseite. Trotz der ständigen Erweiterung der industriellen Anlagen und dem lawinenhaften Anwachsen der Produktionsziffern, trotz Hoch- und Höchstkonjunktur im Baugewerbe ist Japan heute ärmer als je. Die Umwertung aller Werte tötet die frühere Anspruchslosigkeit breiter Bevölkerungsschichten und steigert ihre Bedürfnisse, ohne ihnen einstweilen auch die für deren Befriedigung nötigen Mittel an Hand zu geben Noch ist der Export der gestapelten Industrieerzeugnisse nur erst spärlich angelaufen. Das Weltmonopol der japanischen Seidenindustrie,, die zwar heute etwa 80 Prozent der amerikanischen Frauen mit ihren hervorragenden Produkten versorgt, genügt nicht, um das vielgliedrige Räderwerk der Wirtschaft in Gang zu halten. Zwar wird der inländische Markt fast vollständig aus der eigenen Produktion versorgt, aber schon zeigt sich auf gewissen Gebieten eine Sättigung, und für die Gebrauchsgüter der breiten Masse fehlt die Kaufkraft. Immer größere Anstrengungen werden gemacht, um überseeische Absatzmärkte in beiden Amerika und Europa zu erschließen, denn solange sich der japanischen Exportindustrie, dem Rückgrat der gesamten Wirtschaft, nicht auch der Markt des natürlichen Handelspartners China öffnet, fehlen Japan die Mittel, seine Nahrungsmittel zu bezahlen, auf deren Einfuhr es zu über 50 Prozent angewiesen ist.

Birgt der Expansionsdrang der japanischen Exportindustrie zwangsläufig eine gewisse Gefahr für die westliche Wirtschaft, so ist die gegenwärtige Situation auch für Japan selber nicht ohne Risiko. Ein Blick hinter die moderne Fassade Tokios oder anderer Städte, läßt uns schlagartig die ganze Tragweite der schwierigen Verhältnisse ahnen. Dieses andere Tokio, dies andere Japan zeigt uns mit aller Deutlichkeit die Schwierigkeiten, mit denen die demokratische Regierung zu kämpfen hat. Um dem lebenswichtigen Außenhandel unter die Arme zu greifen und bessere Exportaussichten zu schaffen, hat sich die Regierung — nach einer Periode der Inflation — zu einer Politik der Deflation entschlossen. Das bedeutet nicht allein einen schweren Eingriff in die Exportwirtschaft. Deflation heißt für den kleinen Mann auf der Straße: weniger Geld, Rückgang dar Löhne und in vielen Fällen sogar Arbeitslosigkeit, weil in den ersten Wochen der neuen Politik viele Ar-beitgeberfirmen nicht durchhalten konnten und ihren finanziellen Zusammenbruch anmelden mußten. Zwar sind auch die Lebenshaltungskosten gesunken, aber die Preisabschläge vermögen bei weitem nicht Schritt zu halten mit der Verminderung des Einkommens.

So kommt es, daß — trotz erschreckender Wohnungsnot — Neubauwohnungen leerstehen und das großzügige Wohnungsbauprogramm vorübergehend fast zum Stillstand gekommen ist. Als direkte Folge der Deflation hausen heute Tausende von Familien in selbstgezimmerten Bretterhütten und Blechbaracken auf engstem Raum — steinwurfweit hinter der blendenden Fassade der neuen Zeit. Not macht erfinderisch und auch im größten Elend kommt dem Japaner seine angeborene Geschicklichkeit und sein Sinn für Reinlichkeit nicht abhanden. Hinter dem Fischmarkt, mitten im Herzen der Hauptstadt, stehen viele solcher Pariavillen, mit primitivsten Mitteln geschickt und sauber hergerichtet; die meisten legen Zeugnis ab von der Anpassungsfähigkeit der Bewohner und nicht selten auch vom handwerklichen und künstlerischen Geschick des Hausherrn. Da steht zum Beispiel so ein Einzimmerneubau, vom Fußboden bis zum Dach aus den Blechmänteln alter Oel- und Benzinkannen kunstvoll und sauber gefertigt!Das sind die Aermsten der Armen, von denen Tokio Tausende beherbergt und von denen viele noch vor der Deflation froh und unbeschwert in die Zukunft der neuen Zeit blickten. Ihr Geld reicht jetzt gerade noch für die Steuer und die unentbehrlichsten Nahrungsmittel. Unter ihnen ist der Bewohner eines alten, ausrangierten Eisenbahnwagens ein Krösus. Mit etwa 18 Dollar Monatsverdienst kann sich ein Lastenträger noch den täglichen Reis, etwas Gemüse und sonntags vielleicht einen Fisch leisten, für andere Bedürfnisse bleibt ihm kein Groschen.

Jene, die sich um ein Geringeres besser stehen, die 20, 25 oder 30 Dollar im Monat verdienen, versuchen ihr Glück in den unzähligen Spielsalons aufzubessern und — werden so ihr weniges Geld noch schneller los Andere Tausende von diesen Großstadtparias, die keinen ..Bauplatz“ für ihre Bretterhütte finden, legen ihre müden Knochen zu kurzer Ruhe, wenn Nachtlokale und Vergnügungstempel geschlossen haben, auf einer halbverfaulten Reisstrohmatte in Kinoeingängen, Toreinfahrten oder unter Treppen nieder.

Tagsüber stehen sie zu Tausenden dichtgedrängt in den Schalterhallen der Stadtverwaltung: mit ein bißchen Glück finden sie für ein oder zwei Tage irgendeine Beschäftigung. Wenn nicht, dann beginnt für sie ein ermüdender stundenlanger Marsch durch die Straßen der Stadt; es ist die Jagd nach irgend etwas Eßbarem, das sie gelegentlich aus dem Abfallkübel zutage fördern.

Das ist das andere Tokio, das düstere Leben derer auf der Schattenseite der modernen Zeit. Schon heute sind sie Legion, und solange sich dem japanischen Außenhandel die dringend nötigen Expansionsmöglichkeiten verschließen, finden sie täglich neuen Zustrom. Die ungeheuren Kosten der Wiederaufrüstung verschlingen nicht nur die Steuergelder des Staates, sondern auch die Arbeitskraft und Lebenslust vieler Tausende. Die Selbstmorde mehren sich und gehen täglich allein in Tokio schon übers volle Dutzend. Die schönen Pläne der Regierung: Vollbeschäftigung, angepaßte Löhne und Millionen von Wohnungsneubauten bleiben einstweilen Zukunftsmusik —, wenn und solange nicht der Export den vollen Lagern der industriellen Produktion die Tore nach Uebersee zu öffnen vermag.

Das ist Tokio, das ist Japan: moderne Fabriken, letzte technische Errungenschaften, glanzvolle, neuzeitliche Hochbauten, lächelnde, blendende Fassade! Und dicht dahinter tausendfältiges, unvorstellbares Elend ohne Zukunft, das andere Tokio!

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